# taz.de -- Einkaufen im Dorfladen: Erweitertes Angebot | |
> Seddin im Berliner Speckgürtel hat seit Jahren keinen Laden mehr. Nun ist | |
> ein Ersatz gefunden: Mit Lebensmitteln, Lesecafé und einer Tourismusecke | |
> soll ein neues Geschäft zum Ortsmittelpunkt werden. | |
Bild: Nicht jeder hat einen Supermarkt um die Ecke - in Seddin der Dorfladen au… | |
Ein Weihnachtsbaum mitten im Dorf, geschmückt mit Kinderbasteleien, das ist | |
an und für sich nichts Besonderes. Für Olaf Leistner aber ist die vier | |
Meter hohe Tanne vor dem leerstehenden ehemaligen Supermarkt in Seddin mehr | |
als ein Brauch: Sie steht erstmals auf dem Grundstück, auf dem in diesem | |
Jahr der Dorfladen eröffnen soll - mit einem Angebot an Lebensmitteln, mit | |
einem Café, mit regelmäßigen Treffen. "2012 basteln wir den | |
Christbaumschmuck im Laden", sagt Leistner. | |
Seit fast zwei Jahren planen Leistner und seine ehrenamtlichen Mitstreiter | |
vom Verein "Dorv" Seddin (Dienstleistung und Ortsnahe Rundum Versorgung) an | |
einem Nahversorgungs-Angebot für das Dorf am gleichnamigen See. Seddin | |
liegt im weiteren Speckgürtel von Berlin. Alteingesessene leben mit | |
Zugezogenen zusammen, etwa drei Dutzend Kinder besuchen die Kita, ein | |
Golfclub auf der anderen Seeseite lockt Touristen: Die Mischung gibt dem | |
Ort eine solide Basis, anders als viele periphere Dörfer stirbt Seddin | |
nicht schleichend aus. Nur einen Laden gibt es nicht mehr - das will der | |
Verein ändern. | |
In Leistners Stimme schwingt Hoffnung mit, wenn er von den Planungen | |
erzählt. Schon einmal stand ein Konzept, dann sprang ein Betreiber ab. | |
Behörden verlangten bürokratische Hindernisläufe. "Man braucht einen langen | |
Atem", sagt er. | |
Als die Gemeindevertretung kurz vor Weihnachten endgültig das Konzept für | |
die Seddiner "Dorv" absegnete, waren die 43 Vereinsmitglieder entsprechend | |
erleichtert. In den nächsten Wochen sollen die Förderanträge eingereicht | |
werden, nach Renovierung soll der Zweckbau seine Türen öffnen. Seit fast | |
zehn Jahren müssen die 1.100 Einwohner des Örtchens 50 Kilometer südlich | |
von Berlin ohne Einkaufsmöglichkeit auskommen. Nachdem der Supermarkt | |
aufgegeben hatte, weil es ihm an Kundschaft, Verkaufspersonal und einem | |
passenden Konzept fehlte, steht das Gebäude leer. | |
Geplant ist nun, den Betrieb zweizuteilen, mit einem gemeinsam genutzten | |
Café: Der Seddiner Verein kümmert sich um die sozialen und kulturellen | |
Angebote, den Laden soll eine gemeinnützige GmbH organisieren. Hinter | |
letzterer steht der Kleinmachnower Sozialverein Pusteblume. "Unsere Idee | |
war, Menschen mit Handicap Arbeit zu geben", erzählt Gesellschafter Jan | |
Steinau. "Der Laden scheint uns dafür ideal." Besonderheit einer gGmbH ist, | |
dass alles Erwirtschaftete gemeinnützig verwendet werden muss. Steinau will | |
zunächst sechs Mitarbeiter einstellen, drei davon mit Behinderung. Wer | |
solche Arbeitsformen anbiete, erhalte staatliche Zuschüsse. Ansonsten müsse | |
sich der Laden selbst tragen. | |
Steinau, ein kräftiger, ruhiger Mann, arbeitet freiberuflich in Berlin und | |
engagiert sich seit Jahren für Behinderte und deren Angehörige. Der | |
37-Jährige kennt sich aus im Förder- und Behördendschungel. Tatsächlich | |
scheint er von der Arbeitsorganisation für den Seddiner Laden eine klarere | |
Vorstellung zu haben als von dessen Inhalt. "Wir wollen Lieferanten aus der | |
Umgebung, so viel steht fest", erzählt er über die Pläne für ein | |
Lebensmittel-Angebot lediglich. Back- und Fleischwaren sollen möglichst aus | |
der Nähe kommen, Fische gebe es im Seddiner See, auch Kräuter aus dem Dorf | |
könnten verkauft werden. Was genau, wie genau, mit welcher Kalkulation - | |
das will Steinau dem noch gesuchten Marktleiter überlassen. "Dieser Posten | |
wird das A & O, er muss einen Bezug zum Ort, aber eine Affinität zu Waren | |
haben." | |
Ziel sei, den Seddinern ein Angebot für den täglichen Bedarf vor Ort zu | |
machen. Bislang allerdings müssen sie zwei Kilometer über die Bundesstraße | |
durch den Wald fahren, um zum Discounter im Neuseddiner Gewerbegebiet zu | |
kommen. Pendlern reicht das, älteren Seddinern allerdings nicht. Mehrere | |
Umfragen im Zuge des "Dorv"-Projektes zeigten, dass die Menschen wieder | |
eine Art Tante-Emma-Laden vor Ort haben wollen. Und dass sie bereit sind, | |
dafür ein paar Cent mehr zu zahlen. "Nahversorgung steht als Wunsch ganz | |
oben", sagt Steinau. | |
Die ursprüngliche Idee für ein Wiederbeleben des Ladens kam von Bernd | |
Lehmann. Er wohnt schräg gegenüber dem leerstehenden Gebäude. Bei einem | |
Vortrag erfuhr er von ähnlichen Projekten in Nordrhein-Westfalen; dort ist | |
aus einer Nahversorgungsinitiative ein kleines Beratungsunternehmen | |
entstanden, das bundesweit Dorfladen-Ideen prüft und Projekte | |
gegebenenfalls begleitet. Jürgen Spelthann, einer der "Dorv"-Manager, | |
beriet auch die Seddiner. Er äußert sich positiv über die Zukunftschancen | |
des Vorhabens. "Bei bürgerschaftlichem Engagement ist es immer so, dass es | |
dauert", sagt Spelthann. Eine Vorlaufzeit von zwei, drei Jahren sei nichts | |
Ungewöhnliches. | |
Kritiker werfen Spelthann und dem "Dorv"-Konzept indes vor, zu wenig | |
wirtschaftlich zu arbeiten. Sie schlingerten zwischen Ehrenamt und | |
Unternehmung, anstatt klar betriebwirtschaftlich zu denken, so der Vorwurf. | |
Besonders in Süddeutschland, wo in den vergangenen Jahren Dutzende | |
Nahversorgungs-Initiativen auf dem Land gestartet sind, wird die | |
gewinnorientierte Linie bevorzugt. Nicht ohne Grund: In diesen Gegenden | |
gibt es im Prinzip keine staatlichen Fördermittel, die Läden sind auf ihre | |
eigene, solide Bilanzierung angewiesen. Viele sind als Genossenschaft | |
angelegt, so dass das Geschäft letztlich den Einwohnern selbst gehört. | |
Ähnliches war anfangs in Seddin geplant, dann aber verworfen worden. Die | |
Zweiteilung der Betreiber soll nun eine langfristige Basis sicherstellen. | |
Der Umbau wird mit fast 765.000 Euro veranschlagt, 345.000 Euro davon will | |
die Gemeinde selbst aufbringen, der Rest soll über Fördermittel finanziert | |
werden. | |
Ob sich Laden und soziale Angebote beweisen, wird vom Konzept abhängen. Das | |
bekennt auch Gesellschafter Steinau: Nur eine Konkurrenz zum Discounter | |
sein zu wollen, werde nicht reichen. Steinau denkt über einen Schwerpunkt | |
auf frischen, regionalen Produkten nach, auch spezielle Angebote für | |
Ausflügler aus Berlin seien denkbar. "Wir haben viele Höfe in der Umgebung, | |
die ihre Waren in der jeweiligen Saison im Dorfladen mit anbieten können", | |
bestätigt Olaf Leistner vom Verein "Dorv". Er glaubt, dass das Gebäude | |
schon wegen der Mischung aus Lebensmittelladen und Dorttreffpunkt überleben | |
werde. | |
Gesprächsrunden mit Professoren, Kochevents, Seniorentreffs, ein Lesecafé, | |
Kooperationen mit der "Kulturscheune", eine Fahrrad-Reparatur-Station - | |
Leistner braucht beide Hände, um die Ideen für das Supermarkt-Haus | |
aufzuzählen. "Im Frühjahr stellen wir einen Veranstaltungsplan auf, | |
außerdem werden wir in einem Schaukasten am Gebäude über den Projektstand | |
informieren." | |
Angedacht ist zudem, dass Initiator Lehmann ein Modell des neuen Ladens | |
baut - ebenfalls auf dem Grundstück, vor den noch heruntergelassenen | |
Jalousien des Zweckbaus. Also genau dort, wo noch und Ende des Jahres | |
wieder der Dorf-Weihnachtsbaum steht. | |
3 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Kristina Pezzei | |
## TAGS | |
Einzelhandel | |
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