# taz.de -- Montagsinterview mit Boxtrainerin Sarah Bitterling: "Ein Boxkampf i… | |
> Manche Mädchen tragen Kopftuch, einige wollen lernen, sich zu | |
> verteidigen, und alle wollen Spaß haben, wenn sie zu Sarah Bitterling in | |
> die Halle kommen. Die Trainerin der Boxgirls, des größten Frauenboxclubs | |
> Europas, bringt ihnen bei, sich im Ring und im Leben durchzuboxen. | |
Bild: Trainiert ihre Mädchen für den Ring und fürs Leben: Boxtrainerin Sarah… | |
taz: Frau Bitterling, was macht eine gute Boxerin aus? | |
Sarah Bitterling: Eine gute Boxerin geht immer an ihre Grenzen. Sie kann | |
sich und ihre Emotionen kontrollieren und entwickelt schnell eine Taktik, | |
mit der sie ihre Gegnerin besiegen kann. Mit den Mädchen, die ich | |
trainiere, gibt es den Ehrenkodex, dass sie die Boxtechniken nur in der | |
Halle, also nur in einem sportlichen Kontext anwenden dürfen. | |
Aber wollen Mädchen und Frauen nicht auch boxen lernen, um sich zu | |
verteidigen? | |
Ja, auch, aber selbst im Ernstfall auf der Straße plädiere ich immer fürs | |
Ausweichen. | |
Genügt das immer? | |
Wenn natürlich jemand bereits in deiner Boxdistanz steht und es dann | |
wirklich ein ernster Verteidigungsfall ist, kann gerade bei Männern auch | |
mal zugetreten werden - aber das sind absolute Ausnahmen. Die Mädchen und | |
Frauen lernen durch das Boxtraining, Gefahrensituationen im Alltag viel | |
früher zu erkennen, und gehen durch mehr Kondition, körperliche und | |
psychische Stärke selbstbewusster und vielleicht auch weniger angreifbar | |
durchs Leben. | |
Sie sagen, eine Boxerin muss Emotionen kontrollieren. Aber ist nicht gerade | |
Boxen ein hoch emotionaler Sport, bei dem viel rausgelassen wird? | |
Ja, am Boxsack können Emotionen rausgelassen werden. Nicht aber im Ring. | |
Dort müssen Emotionen kontrolliert werden, um besser reagieren zu können. | |
Wenn ich einen Treffer einstecke, kann ich mich darüber nicht lange ärgern | |
und somit selbst blockieren, sondern muss einen verlorenen Punkt hinnehmen | |
und ihn mir zurückholen; ich muss gleich wieder handeln und darf nicht | |
passiv werden. Entgegen dem veralteten Klischee sind Frauen oft | |
kontrollierter im Ring als Männer. Männer sind emotionaler, werden bei | |
Niederlagen schon mal aggressiv und boxen dann unkontrollierter. | |
Sie sind Trainerin bei den Boxgirls, einem Kreuzberger Frauenboxclub, der | |
Boxen für die Sozialarbeit einsetzt, dafür viele Preise gewonnen hat und | |
dadurch relativ bekannt wurde. Nervt es nicht, immer wieder zu erklären, | |
dass Boxen auch ein Sport für Frauen ist? | |
Wenn es die Fragen immer noch gibt, spreche ich gerne darüber, dass Boxen | |
für Frauen und Mädchen gleichwertig anzusehen ist. Einige haben immer noch | |
Bedenken, dass der Boxsport zu hart ist für Frauen. Dadurch, dass der | |
Boxsport derzeit sehr populär ist und gesehen wird, dass er für die | |
Sozialarbeit taugt, wird jedoch auch das Frauenboxen akzeptierter und | |
normaler. Außerdem wächst jetzt eine Mädchengeneration heran, die sich | |
selbstverständlicher nimmt, was sie braucht, als noch vor acht Jahren, als | |
ich angefangen habe. | |
Wie kamen Sie zum Boxen? | |
Ich habe alle möglichen Sportarten ausprobiert: Hockey, Tennis, Judo. Dann | |
habe ich Partnerakrobatik gemacht, was mir auch viel Spaß gemacht hat. | |
Trotzdem war ich nie ausgelastet: Ich konnte schlecht einschlafen, weil ich | |
abends noch viel Energie hatte. Wie viele Frauen habe auch ich | |
Gewalterfahrungen gemacht: Ich wurde von einem Mann auf der Straße ohne | |
Grund bewusstlos geschlagen. Das war eine sehr heftige Erfahrung. Kurz | |
darauf hat mich eine Freundin mit in die Boxhalle genommen. Der Boxclub war | |
damals noch klein mit zehn, fünfzehn Frauen am Mariannenplatz in Kreuzberg. | |
Das heißt, Sie haben angefangen, um sich zu verteidigen? | |
Auch. Aber ich konnte mich vor allem richtig auspowern. Und es ist die | |
Taktik, die ich an dem Sport spannend finde: Du lernst im Ring die Gegnerin | |
kennen und versuchst blitzschnell, ihre Schwächen rauszufinden. | |
Halten Sie sich selbst für eine gute Boxerin? | |
Manche Leute sagen, ich bin eine gute Boxerin. | |
Wo liegen Ihre Stärken? | |
Im Boxring? | |
Ja, im Ring. | |
Ich boxe auf eine sehr spielerische Art, deshalb sind Gegnerinnen oft | |
genervt von mir. Ich provoziere sie zu schlagen, gehe dann mit einem | |
Konter, also mit einem Gegenschlag rein und bin wieder weg, bevor sie sich | |
einen Punkt zurückholen können. | |
Verraten Sie, wo Ihre Schwächen liegen? | |
Meinen Sie jetzt im Ring oder generell? | |
Kann man das trennen? | |
Teilweise kann ich da Parallelen ziehen. Ich konnte zum Beispiel am Anfang | |
schlecht mit Treffern der Gegnerin umgehen. | |
Das heißt, Sie sind wütend geworden? | |
Wut ist das nicht, eher Enttäuschung, wenn ich einen Treffer einstecken | |
musste, einen Rückschlag hinnehmen - das konnte ich früher auch außerhalb | |
des Rings schlecht. | |
Boxen gilt als brutaler Sport … | |
Ja, das immergleiche Bild vom Boxer mit gebrochenem Kiefer, gebrochener | |
Nase und zugeschwollenen Augen! Natürlich ist Boxen anders als Badminton | |
ein Sport, bei dem durch Treffen des Gegners oder der Gegnerin gepunktet | |
wird. Es wird aber oft vergessen, dass es einen Unterschied zwischen dem | |
Profi- und dem Amateurboxsport gibt: Beim Amateurboxen wird der Kampf | |
abgebrochen, bevor es eine ernsthafte Verletzung gibt. Boxen kann ein sehr | |
ästhetischer Sport sein. | |
Was ist das Ästhetische für Sie? | |
Es ist ein Ganzkörpersport, bei dem alle Bewegungen im Fluss sind. Ein | |
Boxkampf ist wie ein Tanz. Jede Boxerin hat ihren ganz eigenen Stil, und | |
die Bewegungen gleichen sich nicht. Aber im Unterschied zum Tanzen sollte | |
eine Boxerin sich nicht komplett auf den Rhythmus der Gegnerin einlassen, | |
sondern ihren eigenen Tanz tanzen und versuchen, die andere aus dem | |
Rhythmus zu bringen, sie zu verunsichern. | |
Der Frauenboxclub ist in Kreuzberg. Würden Sie auch einen Club in | |
Stadtteilen mit bessergestellten Familien wie Charlottenburg aufmachen? | |
Unser Konzept ist es, Angebote in sozialen Brennpunkten anzubieten, also | |
dort, wo Sozialarbeit dringend gebraucht wird. In Kreuzberg und Neukölln | |
sind wir so für die meisten gut zu erreichen, auch wenn einige wenige aus | |
anderen Bezirken kommen. Wenn Charlottenburg jedoch noch eine Halle frei | |
hat und uns die Mittel zur Verfügung stünden, warum nicht? | |
Ihr Boxtraining ist Sozialarbeit, sie studieren Soziale Arbeit und arbeiten | |
im betreuten Wohnen. Ganz schön viel Geben! | |
Ich mache das auch für mich, denn ich bekomme viel von den Mädchen zurück. | |
Ich sehe es als meine Aufgabe, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu | |
entfalten, und ich freue mich total darüber, wie sie das annehmen und mit | |
welcher Begeisterung sie zum Training kommen, an Projekten teilnehmen und | |
an den Aufgaben wachsen. Es ist schön zu sehen, wie sich die Mädchen zu | |
starken Persönlichkeiten entwickeln. | |
Was heißt denn stark? | |
Eine starkes Mädchen oder eine starke Frau ist eine, die aus Rückschlägen | |
eine Taktik entwickelt, um weiterzukommen. Sie weiß, was sie will, und | |
lässt sich keine geschlechtsspezifischen Grenzen setzen, also nicht sagen, | |
was sie als Mädchen angeblich darf und was nicht. | |
Sind die Mädchen anfangs auch schüchtern, weil sie Angst haben, mit einer | |
Verletzung aus dem Ring zu steigen? | |
Nein, eigentlich nicht. Die Sorge ist eher, was die Eltern oder der Bruder | |
dazu sagen, dass sie boxen wollen. | |
Aber sie kommen ja trotzdem. | |
Ja, aber aus verschiedenen Gründen. Für einige ist es immer noch etwas | |
Außergewöhnliches, als Mädchen zu boxen; viele Mädchen werden zum Beispiel | |
in der Schule darauf angesprochen, sie erfahren mehr Respekt. Manche haben | |
kein sehr ausgeprägtes körperliches Selbstbewusstsein und sehen vielleicht | |
eine Freundin, die sich durch den Sport anders bewegt und auch in der | |
Schule selbstbewusster auftritt. Aber alle wollen sich auspowern, Spaß | |
haben, sportlicher werden und ab und zu einfach auch mal Frust ablassen. | |
Mit welchem Frust kommen sie denn? | |
Wenn die Mädchen den alltäglichen Anforderungen, die immens hoch sind, | |
teilweise nicht gerecht werden können, erzeugt das Frust. Auch, wenn sie | |
nicht genügend Anerkennung bekommen oder aber gar Gewalterfahrungen auf dem | |
Schulhof, zu Hause oder auf der Straße machen, steigt das | |
Aggressionspotenzial. Es ist für Mädchen im Alltag schwer, diese Aggression | |
abzubauen, da es gesellschaftlich nicht akzeptiert ist, dass Mädchen damit | |
nach außen gehen. Beim Boxen können sie ihren Frust ablassen, anstatt ihn | |
vielleicht autoaggressiv gegen sich selbst zu richten. | |
Und für diese Sozialarbeit eignet sich Boxen am besten? | |
Sport eignet sich generell gut für die Soziale Arbeit, jedoch hat da jede | |
Sportart andere Schwerpunkte. Beim Boxen geht es sehr stark um | |
Eigenverantwortlichkeit, darum, eigene Grenzen auszutesten. Beim Training | |
können Emotionen hochkommen, mit denen dann gearbeitet werden kann. Die | |
Hälfte der Mädchen hat außerdem einen Migrationshintergrund, viele kommen | |
aus sozial schwachen Familien. Bei den Boxgirls lernen sie verschiedene | |
Kulturen kennen und erfahren, dass sie wichtige Mitglieder unserer | |
Gesellschaft sind. | |
Wie gehen die Mädchen denn mit der aktuellen Integrationsdebatte um? | |
Solche Äußerungen wie die von Thilo Sarrazin treffen sie natürlich sehr. | |
Leider musste ich vor kurzem mit einem Elternteil darüber diskutieren, | |
warum ein Vater beim Training nicht zugucken durfte, als er unangemeldet in | |
der Halle stand. Die Eltern haben das darauf bezogen, dass dort auch | |
Mädchen mit Kopftuch trainierten, und fühlten sich ungerecht behandelt. | |
Schnell kam das Argument, dass wir hier in Deutschland sind und ein Vater | |
beim Training seiner Tochter zugucken dürfen muss. | |
Wie begegnen Sie dem? | |
Ich habe erklärt, dass das nichts damit zu tun hat, ob wir hier in | |
Deutschland leben oder nicht. Wir bieten Mädchen einen geschützten Raum, in | |
dem sie sich frei bewegen wollen und sollen. Es geht nicht nur um Mädchen | |
mit muslimischem Glauben, sondern auch andere Mädchen mögen es nicht, wenn | |
Jungen oder Männer ihnen beim Sport zugucken. Ich arbeite auch mit Mädchen | |
mit Gewalterfahrungen, die diesen geschützten Raum für sich brauchen. Wenn | |
ein Vater zugucken möchte, kann er das gerne anmelden, und ich kann dann | |
mit der Gruppe besprechen, wann es am besten möglich ist. | |
Die schwarz-gelbe Bundesregierung macht sich derzeit ja für Jungenförderung | |
stark mit dem Argument, dass diese jahrelang vernachlässigt worden sei. | |
Sehen Sie das auch so? | |
Nein. Es ist wichtig, Jungen und Mädchen ihren Lebenswelten entsprechend zu | |
fördern. Endlich wurde mal geschaut, was Mädchen wirklich brauchen, und | |
versucht, darauf zu reagieren. In dieser Zeit wurden die Jungen nicht | |
vergessen. Aber auch wir schließen nicht aus, uns zu öffnen und nicht nur | |
Projekte für Mädchen und Frauen anzubieten. | |
Wie zum Beispiel Ihr queeres Training? | |
Ja. Unsere Idee war, Menschen, die sich nicht in Geschlechterrollen | |
einordnen und entsprechend behandeln lassen wollen, eine | |
Trainingsmöglichkeit zu bieten. Das Queerboxen ist gerade erst angelaufen, | |
und es sind schon mehr als zwanzig Leute gekommen, sodass wir überlegen, | |
eine zweite Gruppe aufzumachen. | |
Was genau heißt queeres Training? | |
Im genderrigiden Sport gibt es eine klare Geschlechtertrennung. Wer | |
heteronormativen Strukturen nicht entspricht, fühlt sich in normalen | |
Sportvereinen selten willkommen. Transmännern zum Beispiel wird das | |
Training in einem Männerverein mit rauem Umgangston meist sehr schwer | |
gemacht. Wir wollen ein offenes und gemischtes Training anbieten. | |
2012 wird Frauenboxen zum ersten Mal olympische Disziplin sein, und Frauen | |
kommen auch in der Öffentlichkeit im Boxring an. Wie sieht es aus mit | |
Trainerinnen und Kampfrichterinnen? | |
Im Amateurboxen gibt es ein paar Trainerinnen, im Profisport habe ich noch | |
keine Trainerin gesehen. In Berlin bin ich die einzige amtierende Punkt- | |
und Ringrichterin, aber eher, weil das für viele Frauen nicht so attraktiv | |
ist. | |
Was hat es attraktiv für Sie gemacht? | |
Ich wollte zum einen das Regelwerk genau kennen, damit mich keiner übers | |
Ohr hauen kann. Zum anderen hat mich auch die Struktur interessiert: Ich | |
wollte zeigen, dass Frauen auch im Boxsport Entscheidungsträgerinnen sein | |
können. Inzwischen habe ich guten Kontakt zu den anderen Kampfrichtern, | |
obwohl es vorher mit einigen eine Eingewöhnungszeit brauchte. | |
Stehen Sie denn selbst noch bei Wettkämpfen im Ring? | |
Im Moment nehme ich nicht als Boxerin an Wettkämpfen teil. Dazu müsste ich | |
drei- bis viermal in der Woche trainieren, was ich gerade nicht schaffe. | |
Aber als Ringrichterin und Trainerin in der Ecke bin ich natürlich dabei. | |
29 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Kathleen Fietz | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Sport trotz Corona | |
Lesestück Interview | |
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