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# taz.de -- Eingreiftruppe europäischer Grenzschützer: Europas größtes Loch
> Für die "Schnelle Eingreiftruppe" europäischer Grenzschützer ist der
> erste Einsatz eine Abwechslung. Für viele Flüchtlinge bedeutet er nichts
> anderes als Ab- und Ausweisung.
Bild: Flüchtlingskinder im Lager Filakio.
Von der Anhöhe aus, unweit der alten Kirche von Nea Vissa, sehen die Felder
und Wiesen völlig friedlich und unspektakulär aus. Die kleine Tiefebene
wird am rechten Rand von einer Baumreihe begrenzt. Dahinter versteckt sich
der Fluss Evros, der an dieser Stelle nach Osten abknickt und einen großen
Bogen beschreibt. Im Hintergrund ist die Silhouette einer größeren Stadt zu
sehen, aus der die Minarette einer Moschee in den Himmel ragen.
Die türkische Stadt Edirne ist von dem griechischen Dorf Nea Vissa etwa 10
Kilometer entfernt. Weitgehend unsichtbar, also ohne Zäune oder Gräben,
verläuft dazwischen die Grenze. "Hier", sagt Georgios Tournakis, ein junger
griechischer Grenzpolizist, und schwenkt seinen Arm einmal von links nach
rechts, "hier ist derzeit das größte Loch in Europas Außengrenze".
Um dieses "Loch" zu stopfen, hat die EU erstmals in ihrer Geschichte vor
einem Monat eine "Schnelle Eingreiftruppe" europäischer Grenzschützer nach
Griechenland geschickt. Seit vier Wochen patrouillieren nun 175 Mitglieder
verschiedenster europäischer Polizeieinheiten gemeinsam mit ihren
griechischen Kollegen an dem 12,5 Kilometer langen Grenzabschnitt zwischen
Nea Vissa und Kastanies. Für Stephan Marchl, der normalerweise am Flughafen
München Pässe kontrolliert, eine willkommene Abwechslung.
350 Flüchtlinge pro Tag
Marchl und ein griechischer Grenzer sitzen gemeinsam in einem deutschen
Polizeijeep, der gemächlich unterhalb der Anhöhe von Nea Vissa einen
Feldweg entlangrumpelt. Die Sicht ist gut, Marchl rechnet nicht damit, an
diesem Nachmittag mit "Grenzverletzern" zu tun zu bekommen.
"Doch man weiß nie", meint er, einen Tag zuvor sei eine Gruppe von 15
Leuten auf die griechische Grenze zugelaufen. "Doch bevor sie bei uns
angelangt waren, hatte das türkische Militär sie schon abgefangen. Wenn sie
durchkommen, werden sie von uns gestoppt. Wir fordern dann Verstärkung an
oder liefern die Leute bei rückwärts postierten Transportfahrzeugen ab, die
sie in ein Auffanglager bringen", berichtet Marchl. Was mit den
Flüchtlingen, die von der Grenze abtransportiert werden, später passiert,
das weiß er nicht. "Damit haben wir ja nichts mehr zu tun."
Bei Stephan Marchl hört sich sein Einsatz wie reine Routine an, dabei sorgt
sein Grenzabschnitt für Furore in ganz Europa. Der Mann, der hier die
Verantwortung trägt und vor sechs Wochen mit seinem Hilferuf den
europäischen Alarm ausgelöst hat, ist Polizeichef Giorgios Salamangas,
oberster Ordnungshüter für den gesamten griechischen Grenzabschnitt
Nordthrakien.
Giorgios Salamangas ist ein rüstiger weißhaariger Mann in den 60ern, der in
maschinengewehrschnellem Stakkato ins Telefon bellt und sich zwischendurch
den Fragen des Reporters widmet. Er empfängt im Polizeihauptquartier in der
Kreisstadt Orestiada. Dort herrscht reges Kommen und Gehen, die
Koordinationszentrale für Frontex, wo Griechen und Vertreter der entsandten
europäischen Polizeieinheiten an einem Tisch sitzen, liegt gleich nebenan.
"Wir haben in unserem Grenzabschnitt in der Zeit von Januar bis September
fast 50.000 illegale Migranten festgenommen", sagt er beschwörend, "von
Mitte September bis Mitte Oktober fast 350 Personen jeden Tag. Wir wurden
praktisch überrannt." Seit die europäische Grenzagentur Frontex Anfang
November dann ihre "Rapid Border Intervention Teams" (RABITs) geschickt
hat, "konnten wir die illegalen Grenzübertritte um 50 Prozent reduzieren.
Ich hoffe, die Lage stabilisiert sich jetzt."
Was sich hinter den Zahlen von Herrn Salamangas verbirgt, ist das tägliche
Drama an den Grenzen der Festung Europa. Die 2005 zum "Schutz" der
europäischen Außengrenzen gegründete EU-Agentur Frontex verteilt in ihrer
Pressemappe ein Schaubild, auf dem man gut nachvollziehen kann, was sich an
den europäischen Außengrenzen in den letzten drei Jahren getan hat.
Es ist die Geschichte einer grenzpolizeilichen Aufrüstung, die dazu geführt
hat, dass Flüchtlinge, die versuchten, EU-Territorium via Kanarische
Inseln, Spanien, Italien und zuletzt Griechenland zu erreichen, immer
weiter nach Osten abgedrängt wurden. Gab es in den letzten zwei Jahren noch
ständig Meldungen über ertrunkene Flüchtlinge in der Ägäis oder überfüll…
inhumane Flüchtlingslager auf griechischen Inseln, hat sich jetzt die
gesamte Flüchtlingsproblematik an die Landesgrenze zwischen der Türkei und
Griechenland verlagert. Ein Anstieg der registrierten Flüchtlingszahlen um
369 Prozent für 2010 meldet die Frontex-Statistik.
Diese 200 Kilometer lange Grenze wird überwiegend durch den Fluss Evros
(türkisch: Meric) gebildet. Der Fluss ist vergleichbar mit der Oder, er ist
nicht leicht zu überqueren. Etliche Flüchtlinge sind bei dem Versuch
tödlich verunglückt. Nach offiziellen Zahlen von Frontex sind allein in
diesem Jahr 41 Menschen im Evros ertrunken. Doch die Zahlen geben nur die
Toten wieder, die am griechischen Ufer angespült wurden. Wie viele auf
türkischer Seite verscharrt wurden, weiß man nicht genau. Vor Kurzem wurde
ein Grab mit 14 Leichen entdeckt.
Die einzige Stelle, an der Flüchtlinge für den Grenzübertritt nicht durch
den Fluss müssen, sind die 12,5 Kilometer zwischen Nea Vissa und Kastanies.
Weil der Fluss hier nach Osten schwenkt, verläuft er ausschließlich über
türkisches Territorium. Auf türkischer Seite kann man den Fluss bequem über
eine Brücke passieren.
Aus Afrika, dem Irak, Iran und Zentralasien versuchen nun
Kriegsflüchtlinge, politisch Verfolgte oder Menschen, die der Armut in
ihrer Heimat entkommen wollen, über diesen schmalen Landstreifen in das
Gebiet der EU zu gelangen. "Ungefähr die Hälfte von ihnen", sagt
Polizeichef Salamangas, "kommt aus Afghanistan. Aber wir treffen jetzt auch
auf Algerier und Marokkaner, Menschen, die wir hier vorher nie gesehen
haben."
Schlendert man durch Orestiada, den Hauptort der Grenzregion, ist von dem
vermeintlichen Ansturm der Flüchtlinge nichts zu bemerken. "Die kommen
nicht hierher", sagt eine junge Frau, die lange in Deutschland, gelebt hat,
"die verstecken sich in den Feldern." An einem Imbiss sind am Abend dann
doch einige Iraker anzutreffen. Sie wollen lieber nicht mit der Presse
reden. Lediglich einer sagt, Freunde von ihnen seien im Flüchtlingslager,
deshalb warteten sie hier.
Das Lager, wohin die Flüchtlinge alle spurlos verschwinden, liegt rund 30
Kilometer hinter der Grenze, nahe dem Dorf Filakio. Doch auch wenn man sich
auf den Weg nach Filakio macht, bleiben die Flüchtlinge unsichtbar. Das
Gelände ist durch einen hohen Zaun und einen Wachturm gesichert,
Unbefugten, zu denen grundsätzlich Journalisten gehören, ist der Zutritt
verboten. Der Posten am Tor ist aber so nett, einen Deutsch sprechenden
Kollegen zu rufen, der dann behauptet, nach zwei, drei Tagen Aufenthalt
könnten alle Flüchtlinge das Lager wieder verlassen. Es herrsche ein
ständiges Kommen und Gehen.
Überfülltes Lager
Nach Informationen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die
Anfang Dezember das Heim besucht hat, ist das höchstens die halbe Wahrheit.
Tatsächlich sei das Gebäude ständig überfüllt, es herrschten katastrophale
sanitäre Bedingungen und eine angespannte Atmosphäre. Human Rights Watch
beklagt vor allem, dass die griechischen Behörden sich nicht um Kinder und
Jugendliche kümmern, die ohne Begleitung an der Grenze aufgegriffen wurden.
Von den 450 Insassen Anfang Dezember sollen 120 Minderjährige gewesen sein.
Human Rights Watch hat die griechischen Behörden gebeten, wenigstens für
die Minderjährigen angemessene Unterkünfte und soziale Betreuung
bereitzustellen. An die Adresse von Frontex richtet sich die Aufforderung,
dafür zu sorgen, dass die Flüchtlinge unter humanen Bedingungen
untergebracht werden - oder aber den Einsatz in Griechenland zu beenden.
"Die Menschenrechtscharta und die fundamentalen Werte der EU verpflichten
Sie dazu, alles dafür zu tun, dass die Flüchtlinge korrekt behandelt
werden."
Einzelne Polizisten sind auch durchaus davon überzeugt oder geben das
zumindest vor, dass ihr Einsatz dem Wohl der Flüchtlinge dient. So sagt der
deutsche Kontingentführer Gennaro di Bello (er hat italienische
Gastarbeitereltern) über seinen Einsatz, es gehe ihm ja nicht darum, dass
Flüchtlinge draußen bleiben, sondern dass ihre Einreise in die EU
dokumentiert wird. "Jemanden, den es gar nicht gibt, der unerkannt
einreist, kann man ja umso leichter ausbeuten."
Frontex hat aber in Hinsicht auf das Flüchtlingslager andere Prioritäten.
Es geht vor allem darum, die Nationalität der Migranten festzustellen.
Flüchtlinge haben in der Regel keine Identitätspapiere dabei, wenn sie
EU-Boden betreten, weil man sie sonst gleich in ihr Heimatland
zurücktransportieren würde. Frontex-Spezialisten versuchen deshalb,
mithilfe von erfahrenen Dolmetschern die Herkunft der Leute zu klären.
Flüchtlinge, die sich dabei überrumpeln lassen, bleiben im Lager, bis ihr
Rücktransport organisiert ist, auch wenn das manchmal Wochen dauert.
Doch diejenigen, die man nicht abschieben kann, weil man auch nach
intensiver Befragung nicht weiß, wohin, sind diejenigen, die es erst einmal
geschafft haben. Sie bekommen von der griechischen Polizei ein Dokument,
auf dem steht, dass sie Griechenland nach 30 Tagen verlassen müssen - mit
anderen Worten: Sie sind erst einmal 30 Tage lang legal in Europa. Ihr
Traum von Europa beginnt an einer Bushaltestelle vor dem Flüchtlingslager.
Einmal am Tag fährt von hier für 60 Euro ein Bus nach Athen.
10 Dec 2010
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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