# taz.de -- Prenzlauer Berg: Bürgersteigaufstand in der Castingallee | |
> Bezirksstadtrat Kirchner (Grüne) will die Trottoirs auf der Ausgehmeile | |
> Kastanienallee verkleinern. Eine ungewöhnliche Allianz von Exbesetzern, | |
> Barbetreibern und "FAZ"-Redakteuren ruft für Samstag zum Protest | |
Bild: Noch ist schön viel Platz fürs Klapperrad: Bürgersteig an der Kastanie… | |
Drei Ausrufezeichen stehen hinter jeder Parole. Insgesamt sechsmal drei | |
Ausrufezeichen finden sich auf dem [1][Plakat], das in jedem zweiten Laden | |
im Schaufenster hängt. "Nein zur Zerstörung der Kastanienallee!!!", heißt | |
es dort. "Nein zu Parkplätzen auf dem Bürgersteig!!!" Und vor allem: "Nein | |
zur Bevormundung!!!" Die Forderung hat eine gewisse Dringlichkeit. Ginge es | |
nach dem [2][Bezirksamt Pankow], dann würde die Kastanienallee in | |
Prenzlauer Berg seit Ende November umgebaut. Der Schnee hat die Arbeiten | |
auf Eis gelegt und wütenden Anwohnern eine Chance gegeben. Für Samstag | |
rufen sie zum Aktionstag. Außerdem werden Unterschriften für einen | |
Bürgerentscheid gesammelt. | |
Das Schlagwort "Kastanienallee 21" macht die Runde. Es geht nicht um eine | |
Adresse an der Kneipenmeile. Es geht um Bürgerprotest. Wie in Stuttgart. | |
Nur dass hier kein Bahnhof die Bürgerwut weckt, sondern das Konzept des | |
grünen Stadtrats Jens-Holger Kirchner für eine grüne Verkehrspolitik in | |
einer grünen Wählerhochburg. | |
Kirchner hat sich gerade erst mit den "Ekellisten" als Kämpfer für | |
Restauranthygiene stadtweit einen Namen gemacht. Mit dem Plan für eine | |
Fahrradspur auf der Kastanienallee droht er seinen Ruf zu verspielen. Sie | |
soll die Sicherheit erhöhen. Die Tram käme schneller voran. Dafür aber | |
müssten die Autos zwischen den Bäumen parken. Die breiten Bürgersteige | |
würden schmaler. Und die machen den Charme der Flaniermeile aus, sagen | |
Anwohner, Gastwirte und Besucher. | |
Seit zwei Jahren wird über die Umgestaltung gestritten. Im Jahr 2009 gab es | |
eine fünfstündige Anwohnerversammlung. Mitte November stellte Kirchner die | |
endgültigen Pläne vor - nahezu unverändert ([3][taz berichtete]). Dann traf | |
er sich mit Kritikern vor Ort, um mit Maßbändern die Veränderung zu | |
visualisieren. Und zum Schlichtungsgespräch in der Geschäftsstelle der | |
Grünen an der Pappelallee. Es brachte keine Einigung, kein Verständnis, nur | |
den alten Streit. Kirchner sah von Stunde zu Stunde genervter aus. Stefanie | |
Remlinger, grüne Fraktionschefin im Bezirksparlament, beschwerte sich über | |
Hassmails, die sie mittlerweile bekomme. | |
Tiefbauamtplaner Jörg Beuge platzte mehrfach der Kragen angesichts der | |
seiner Meinung nach dilettantischen Ausführungen der Gegner. Die sehen das | |
anders. Für Sebastian Mücke, dem drei Geschäfte an der Straße gehören, ist | |
die Sache klar: "Wir wollen nicht, dass die Allee so aussieht wie Straßen | |
in Oldenburg oder Hildesheim. Wir wollen keine modernisierte Straße!" Für | |
Frank Möller vom Verein Carambolage war die Diskussion so wichtig, dass er | |
sich via Skype zuschaltete. "Die Kastanienallee soll zerstört und zum | |
Transitraum werden", befürchtet Möller. "Dadurch würde ihr einzigartiges | |
Flair vernichtet." Heiner Funken vom Bürgerverein Gleimviertel, der das | |
Treffen als Mediator leitete, musste ein ums andere Mal zu mehr | |
Sachlichkeit ermahnen. | |
Die Kastanienallee polarisiert. Ob man sie liebt oder hasst: Sie ist ein | |
Aushängeschild, ein Symbol für das Nachwendeberlin. Sie ist Flaniermeile, | |
Touristenmagnet und mit ihren Bars und Cafés ein sozialer Treffpunkt für | |
Künstler, Anwohner und Besucher von Prenzlauer Berg. Der Kabarettist | |
Reinald Grebe besingt sie zynisch als: "Castingallee, Castingallee. Wir | |
alle, wir alle, sitzen auf der Castingallee." Aber was wäre eine | |
Castingallee ohne Catwalk? Ohne einladend breites Trottoir für die | |
Selbstpräsentation der Flaneure? | |
Nach der Wende wurden die Häuser größtenteils saniert und modernisiert. Der | |
Kiez wurde Vergnügungsviertel. Durch die Gentrifizierung stiegen die | |
Mieten. Viele der früheren Anwohner zogen fort. Doch auch die neue Mischung | |
ist nicht ohne. Zwei Jahre lang diskutierte der Stadtrat im Wesentlichen | |
mit einer Handvoll engagierter Vertreter kleiner Bürgerinitiativen. Jetzt, | |
wo die Baufahrzeuge quasi schon in der Straße stehen, hat sich im | |
"Szeneviertel" eine überraschende Allianz zwischen alteingesessenen Ossis | |
und zugezogenen Wessis, zwischen Gewerbetreibenden und Anwohnern sowie | |
zwischen Schickimickiläden und Gemüseverkäufern zusammengetan - gegen den | |
Umbau ihrer "guten alten Kastanie". Der Bäcker und der Buchladen sind | |
dabei. Der Designerschnickschnackladen Luxus International und die von | |
einem "Ossi" geleitete, 1993 gegründete Bar Schwarzsauer. Die Bewohner | |
eines einst besetzten Hauses hängten ein riesiges Transparent an ihre | |
Fassade. "Grüne killen Bürgersteige" steht darauf. | |
Der potenteste Gegner für den grünen Stadtrat sitzt am anderen Ende der | |
Allee, in der Yuppiebar "103". "Ich möchte nicht, dass es hier am Ende wie | |
in einem Vorort von Freiburg aussieht", sagt Till Härter, Besitzer des | |
"103", in dem sich FAZ- und Zeit-Autoren treffen. Die Barbetreiber | |
gründeten eine [4][Protestgruppe auf der Internetplattform Facebook], auf | |
der sich innerhalb weniger Tage hunderte Mitstreiter registrierten. | |
Der Zionskirchplatzfan und Popliterat Maxim Biller ist dabei. Auch Claudius | |
Seidl, Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die am | |
Wochenende groß über die Protestwelle in der Kastanienallee berichtete. Und | |
der Straßenanwohner Matthias Roeingh, besser bekannt als | |
Loveparade-Erfinder Dr. Motte. "Ich rufe auf zum geschlossenen Widerstand | |
gegen diese Umbaumaßnahmen", schreibt der DJ im Internet. "Wir, die | |
Anwohner, wollen kein Stuttgart 21 in der Kastanienallee! Kastanienallee 21 | |
- Nein Danke!" | |
Stadtrat Kirchner gibt sich gelassen. Auf die Frage, ob er Stuttgart 21 in | |
Prenzlauer Berg befürchtet, sagt er: "Nein, überhaupt nicht. Die Grünen | |
befürworten die Partizipation der Bürger." Bürgerbeteiligung, das hat | |
Kirchner mehrfach klargestellt, heiße noch lange nicht, dass die Bürger | |
auch bestimmen. Das macht die Anwohner so wütend, dass sie hinter jeden | |
Satz drei Ausrufezeichen setzen. | |
16 Dec 2010 | |
## LINKS | |
[1] http://stoppt-kastanienallee21.posterous.com/wir-sagen-nein-zur-geplanten-z… | |
[2] http://www.berlin.de/ba-pankow/verwaltung/tiefbau/kastanienallee_pb.html | |
[3] /1/berlin/artikel/1/-0388866e95/ | |
[4] http://www.facebook.com/home.php?sk=group_145561068828427 | |
## AUTOREN | |
A. Grabovac | |
G. Asmuth | |
## TAGS | |
Gentrifizierung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Immobilienwahnsinn in Prenzlauer Berg: Mit Weitblick und Orchideengarten | |
In der Kastanienallee besteht derzeit Grund zur Freude über eine sehr | |
gelungene Gentrifizierungsparodie. Das Beste ist das Kleingedruckte. | |
Konflikt diese Woche in der BVV: Kastanienallee vor der Entscheidung | |
BVV Pankow berät über Anwohnerbefragung. Bürgerinitiativen fordern | |
Baustopp. Grüne schwanken zwischen Bürgerbeteiligung und der Unterstützung | |
ihres Stadtrats. | |
New York im Wandel: Gentrifizierung der Geschäfte | |
Während alle Welt über Gentrifizierung redet, werden ihre Ursachen und | |
Mechanismen immer komplexer. Besonders gut zu beobachten ist das in New | |
York. | |
Streit um die Kastanienallee: Ein Kiez probt den Schwabenaufstand | |
Mit Glühwein und Musik protestieren Anwohner gegen "K 21" - den vom | |
Stadtrat geplanten Umbau der Flaniermeile. | |
Bürger gegen Umbau der Kastanienallee: Kampf um den Bürgersteig | |
Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner (Grüne) verkündet den Umbau der | |
Flaniermeile in Prenzlauer Berg. Anwohner und Gewerbetreibende fühlen sich | |
komplett ignoriert | |
Bürgerbeteiligung: Grüne überfahren Bürger | |
Die Kastanienallee in Prenzlauer Berg soll umgebaut werden. Anwohner | |
kritisieren die Pläne des Bezirks. Doch davon hält der grüne Stadtbaurat | |
nichts: "Bürgerbeteiligung macht hier wenig Sinn" |