# taz.de -- Hartz-IV im täglichen Leben: Sparen, sparen, sparen | |
> Warum der Hartz IV-Regelsatz nicht ausreicht und wie eine Familie in der | |
> westdeutschen Provinz versucht, ihren vier Kindern dennoch soziale | |
> Teilhabe zu ermöglichen. | |
Bild: Wie viele Chancen ermöglicht das Hartz IV-Bildungspaket für Kinder? | |
DÜLMEN taz | Anke Irmer lebt mit ihrem Mann Lothar und ihren zwischen 13 | |
und 7 Jahre alten Kindern Marvin, Sarah, Leon und Sinah im Münsterland. Um | |
ihr Haus herum liegen Felder, die nächsten Höfe sind einige hundert Meter | |
weit weg, bis zum nächsten kleineren Ort, Hiddingsel, wo es eine Bäckerei | |
und einen kleinen Edeka gibt, sind es vier Kilometer. | |
Bis zum Jahr 2003 hatte die heute 42-Jährige eine Vollzeitstelle als | |
Verkäuferin in der acht Kilometer entfernten Stadt Dülmen. Dann kamen die | |
heute sieben Jahre alten Zwillinge Leon und Sinah zur Welt, und Irmers | |
befristeter Arbeitsvertrag als Verkäuferin wurde nicht verlängert. "Seitdem | |
bin ich von Hartz IV nicht weggekommen", sagt sie. Mit einem 400-Euro-Job | |
verdient sie gelegentlich etwas hinzu. Davon darf sie 160 Euro behalten, | |
der Rest wird auf den Regelsatz angerechnet. Eine feste, volle Stelle | |
findet sie nicht mehr, beworben hat sie sich immer wieder. "Die | |
400-Euro-Jobs haben die Vollzeitstellen kaputtgemacht. Und ich gelte als zu | |
alt." | |
Ihr 57-jähriger Mann Lothar hat früher als Metzger gearbeitet. Nach einem | |
Arbeitsunfall und wegen einer schweren Infektion, die er sich im | |
Krankenhaus zuzog, wurde er erwerbsunfähig. Er erhält eine Rente von 190 | |
Euro, der Betrag wird durch Grundsicherung aufgestockt, auch er verdient | |
100 Euro dazu. Mit dem Sozialgeld der Kinder und den Leistungen für | |
Unterkunft und Heizung kommt die sechsköpfige Familie so auf 2.489 Euro, | |
die ihr im Monat zur Verfügung stehen. | |
Was ist damit möglich? | |
Der 13 Jahre alte Marvin geht zweimal die Woche in den Fußballverein. Die | |
fünfeinhalb Kilometer zum Trainingsplatz fährt er immer mit dem Rad, nur im | |
Winter bringt Anke Irmer ihn mit dem Auto hin. Wie auch die 12 Jahre alte | |
Sarah, die einmal die Woche 14 Kilometer hin und zurück zum | |
Querflötenunterricht in die 45.000-Einwohner-Stadt Dülmen fährt. Die | |
Zwillinge können das Angebot einer Behindertensportgemeinschaft nutzen, | |
gehen einmal in der Woche Schwimmen, einmal Turnen. Die Kleinen fährt sie | |
immer mit dem Auto, "die lass ich mit sieben Jahren keine 14 Kilometer über | |
Landstraße fahren", erzählt Irmer. | |
Die Vereinsbeiträge für die Kinder kosten 280 Euro im Jahr - Geld, das sie | |
ab dem nächsten Jahr durch das Bildungspaket zurückerstattet bekommen soll. | |
"Es wäre eine Hilfe", sagt sie. Aber Geld fehlt für andere Dinge: 140 Euro | |
im Monat zahlt sie allein für den Sprit, den der 17 Jahre alte Ford Fiesta | |
verbraucht. Das Amt erlaubt ihr zwar, das Auto zu besitzen, doch die Kosten | |
für Benzin, Steuern und Versicherung - für die beiden letztgenannten Posten | |
zahlt sie noch einmal 53 Euro im Monat - sind im Regelsatz nicht enthalten, | |
ebenso wenig wie die Kosten für Reparaturen. Stattdessen werden der Familie | |
99,28 Euro für den öffentlichen Nahverkehr zugestanden - das sind 94 Euro | |
weniger, als sie im Monat für Transportkosten benötigt. | |
Hinzu kommt, dass das Jobcenter auch die 950 Euro Kaltmiete für das 158 | |
Quadratmeter große Haus nicht mehr komplett übernimmt. Für die Miete sind | |
im Gesamtbudget von 2.489 Euro 595 Euro enthalten. Die restlichen 355 Euro | |
muss die Familie aus dem Regelsatz bestreiten. Auch Heizöl zahlt das Amt | |
nicht komplett. 300 Euro, die aus dem Regelsatz abgezweigt werden müssen, | |
fielen in der letzten Heizperiode an. | |
"Das Haus ist viel zu groß und teuer", sagt auch Anke Irmer. "Aber wir | |
finden für uns sechs nichts anderes." Auf 474 Euro im Monat summieren sich | |
die Ausgaben für Mobilität, Miete und Heizung, die in den Leistungen vom | |
Jobcenter nicht vorgesehen sind. | |
Dort hat man ihr einmal gesagt, sie brauche ja kein Auto. "Dabei sind wir | |
ohne das hier vollkommen aufgeschmissen. Soll ich vielleicht jedes Mal acht | |
Kilometer bis zum Supermarkt laufen und dann die Einkäufe für sechs | |
Personen nach Hause tragen?" Der einzige Bus fährt sechsmal am Tag, zum | |
letzten Mal um Viertel nach vier. Immerhin kommt für den Transport zu den | |
drei Schulen, auf die ihre Kinder gehen, die Kommune auf. | |
Rudolf Martens, Leiter der Forschungsstelle des Paritätischen | |
Wohlfahrtsverbands, nennt den Mobilitätsbedarf in der Regelsatzdiskussion | |
ein "verdrängtes Thema". Er hat errechnet, dass fast 60 Prozent der | |
Haushalte mit Kindern unter 15 Jahren, die Hartz IV bekommen, außerhalb von | |
Großstädten leben. Ihr deutlich höherer Mobilitätsbedarf geht aber nicht in | |
die Regelleistung ein. Dabei geben allein Paare, die wenig verdienen, mit | |
nur einem Kind 135 Euro im Monat aus, um sich fortzubewegen, hat die | |
Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 ergeben. | |
Sparen, sparen, sparen lautet Anke Irmers Antwort darauf, dass grundlegende | |
Dinge für die alltägliche Existenz durch den Regelsatz nicht abgedeckt | |
werden. Eher spart sie bei ihren Ausgaben, um den Kindern etwas zu | |
ermöglichen. Wie Studien zeigen, steht sie damit nicht allein. Die meisten | |
Hartz-IV-Familien sparen nicht bei ihren Kindern - und konterkarieren damit | |
die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen. Die CDU-Politikerin hat | |
sich gegen eine Erhöhung der Kinderregelsätze und für das Bildungspaket | |
entschieden, damit, wie sie sagt, "die Leistung direkt zum Kind kommt" - | |
ganz so, als würden die meisten Eltern zuerst an sich selbst denken. | |
"Ich versuche, den Kindern frisches Obst und Gemüse zu geben. Aber oft gibt | |
es Eintopf." Den kocht Irmer literweise vor und friert ihn ein. "Da habe | |
ich einmal einen großen Aufwand und spare Strom fürs Kochen." Marvin kann | |
dreimal die Woche in seiner Schule zu Mittag essen. Dafür muss sie 1,50 | |
Euro aus eigener Tasche bezahlen. Auch mit dem Bildungspaket wird es nicht | |
viel weniger. Denn beim Zuschuss zum Mittagessen, der künftig vom Bund | |
fließen soll, müssen die Eltern immer einen Euro selbst finanzieren. | |
Im Moment sorgt sich Irmer um die Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) | |
ihrer Kinder. Alle vier haben dieses Handicap. Doch LRS ist bei den | |
Krankenkassen nicht als Krankheit anerkannt, eine Therapie wird nicht | |
bezahlt. Sie könnte sich für jedes Kind durch Experten einen speziellen | |
Lernordner zusammenstellen lassen, um anhand genauer Anleitungen mit ihren | |
Kindern zu Hause zu üben. | |
Doch die Ordner kosten 80 Euro pro Kind. Das Jobcenter weigert sich, das zu | |
bezahlen, weil so ein Ordner kein "regelmäßiger Mehrbedarf" sei, lautet die | |
Begründung. Ein regelmäßiger Kurs hingegen würde finanziert, obwohl er im | |
Monat mit 180 Euro für jedes Kind viel teurer wäre. "Aber ich kann nicht | |
auch noch zweimal in der Woche jeweils zwei Kinder insgesamt 16 Kilometer | |
zu solch einem Kurs fahren. Wo soll ich das Geld für das Benzin | |
hernehmen?", sagt Irmer. | |
Im Bildungspaket kann stattdessen - unter strengen Voraussetzungen - in | |
Zukunft auch außerschulische Nachhilfe finanziert werden. "Diese Leistung | |
brauchen meine Kinder aber zum Glück gar nicht, noch nicht", sagt Irmer. | |
Die Diskussion über eine 5-Euro-Regelsatzerhöhung findet sie "lächerlich". | |
Und das Bildungspaket? "Es heißt, alle Kinder sollen die gleichen Chancen | |
bekommen. Bei meinen Kindern bleibt davon nicht viel übrig." | |
17 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
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