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# taz.de -- Nach der Jugendgewalt-Debatte: In Berlin gibt's bald nen Kinderknast
> Kinder werden härter rangenommen. Berlins Vorstoß für eine Anstalt mit
> "intensiver pädagogischer Betreuung" läuft auf einen Kinderknast hinaus.
Bild: Ein Häftling schaut aus dem Fenster des Jugendgefängnisses im mittelhes…
Jugendkriminalität ist groß in Mode. Mal wieder. Kaum ist die "Akte
Brunner" mit harten Urteilen gegen einen der jugendlichen Beschuldigten
abgeschlossen, werden Kinder als Drogendealer enttarnt. Zwar hat die
jüngste Shell-Studie erneut gezeigt, dass Jugendliche zwischen 14 und 25
Jahren an den alten Werten festhalten. Auch die Kriminalstatistik und sogar
die Dunkelfelderhebungen des Kriminologischen Forschungsinstituts
Niedersachsen berichten von einem Rückgang der Jugendkriminalität.
Dennoch sind die Scharfmacher mitten unter uns. Der Berliner
Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) hat gerade eine "Einrichtung mit
besonders intensiver pädagogischer Betreuung" vorgestellt. Man mag die
Worte wägen, wie man will - was er vorschlägt, ist nichts anderes als eine
Kinderstrafvollzugsanstalt.
Senator Zöllner hat sich nie als besonders qualifizierte Fachkraft für
Jugendkriminalität hervorgetan. Was er nun vorschlägt - "besonders
intensive pädagogische Betreuung" -, ist genau das, was laut Gesetz in
Jugendstrafanstalten längst geschehen sollte: "Der Vollzug ist erzieherisch
zu gestalten. Die Gefangenen sind in der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und
Fertigkeiten so zu fördern, dass sie zu einer eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Lebensführung in Achtung der Rechte anderer befähigt
werden."
Aber das geschieht dort selten. Deshalb beträgt die Rückfallquote bei
ehemaligen Insassen von Jugendgefängnissen bis zu 90 Prozent. Der jetzt
ertönende Ruf nach "geschlossenen Heimen" für unter 14-Jährige ist nichts
anderes, als das Strafmündigkeitsalter auf 12 oder gar 10 Jahre zu senken -
ohne es so deutlich auszusprechen. Die Forderung entspringt nicht im
Entferntesten der Absicht, junge Menschen zu erziehen. Es hat vielmehr mit
der Unfähigkeit der Gesellschaft zu tun, mit Kriminalität klug umzugehen.
Drogendealende Kinder (wenn es die denn gibt) werden von Banden, Clans oder
Familien zum Drogendealen abgerichtet. Das hat Kirsten Heisig in ihrem
Bestseller vom "Ende der Geduld" eindrucksvoll beschrieben.
Wenn man diese Kinder nun de facto einbuchtet, so trifft man damit die am
wenigsten für die Taten Verantwortlichen. Man nimmt sie in Haft, weil die
Strafverfolgungsbehörden an die verantwortlichen Erwachsenen nicht
herankommen - aus welchen Gründen auch immer. Man kann aber schwerlich die
Unfähigkeit staatlicher Organe, die Ursachen des Übels zu bekämpfen, mit
der Geiselnahme von Kindern ausgleichen.
Dass zwei gemeinnützige Organisationen, darunter eine kirchliche, mit den
Fingern schnippen, um den Job zu machen, ist kein Zeichen christlicher
Nächstenliebe, sondern von Habgier. Mit privaten Gefängnissen lässt sich
viel Geld machen, das zeigt die US-amerikanische Gefängnisindustrie. Vor
allem eröffnen solche "Heime" kirchlichen Organisationen ein finanziell
durchaus reizvolles Betätigungsfeld. Sie können dabei auf die reichen
Erfahrungen zurückgreifen, die sie in der Heimerziehung in den 50er, 60er
und 70er Jahren gesammelt haben.
Der Schrei nach "mehr Sicherheit" richtet sich vor allem gegen die Jugend.
Sechsmal in den letzten zehn Jahren ist das Jugendstrafrecht verschärft
worden. Die Jugendstrafe für Mord soll von 10 auf 15 Jahre erhöht werden -
wohl wissend, dass diese Veränderung weder abschreckend noch erzieherisch
wirkt.
Seit etwa drei Jahrzehnten lässt sich international der Trend beobachten,
die "punitiven", also strafenden Elemente im Jugendstrafrecht gegenüber den
erzieherischen zu forcieren. In dem "goldenen Vierteljahrhundert" nach dem
Zweiten Weltkrieg war das anders. Da hatte man "der Jugend" mehr und mehr
Rechte eingeräumt. Die Volljährigkeitsgrenze und das Wahlalter wurden
herabgesetzt. In Schulen, Universitäten und Betrieben bekamen die Lernenden
mehr Mitbestimmungs-, zumindest aber Mitwirkungsrechte zugesichert. Den
Erziehungsheimen versuchte man den Strafcharakter zu nehmen, geschlossene
Heime wurden weitgehend abgeschafft.
Doch seit den 80er Jahren geht es wieder andersherum. "No tolerance",
"first strike", "boot camps" in einigen Staaten der USA, verschärfte Geld-
und Haftstrafen für Schulschwänzer und ihre Eltern in Großbritannien, die
Forderung nach Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters durch den früheren
Berliner FDP-Vorsitzenden Martin Lindner trug zu dieser Entwicklung bei.
Dazu gehört auch die Ausweitung des Jugendarrests. Er ist ein
"Zuchtmittel", das ausdrücklich der Erziehung des jungen Menschen dienen
soll, tatsächlich aber längst weitgehend zu einer "Ersatzhaft" verkommen
ist. Als "Warnschussarrest" wird er denn auch gern, trotz entgegengesetzter
Bestimmungen, in nur notdürftig abgetrennten Erwachsenenstrafanstalten
umgesetzt. Den Betroffenen wird oft sogar das Tragen von Anstaltskleidung
abverlangt, obwohl es anders vorgeschrieben ist.
12.000 junge Menschen kommen jährlich in einen solchen Arrest. Die Strafen
reichen vom "Freizeitarrest", der dem Jugendlichen Freizeit nimmt, bis zu
vier Wochen Dauerarrest. Zwei Drittel dieser Arreststrafen werden nicht
aufgrund einer Straftat verhängt, sondern sind nachgelagerte Strafen,
sogenannter Beugearrest, verhängt, weil 2 von 40 Stunden sozialer Arbeit
noch nicht geleistet wurden oder weil 50 Euro einer 500-Euro-Strafe nicht
gezahlt wurden - und zwar auch dann, wenn sich der oder die Jugendliche in
ansonsten wünschenswerter Weise verhalten hat. Hier wird nicht vornehmlich
das Fehlverhalten eines Jugendlichen geahndet, sondern ein
Jugendgerichtshelfer und ein Richter geben ihrem Ego Zucker - und gefährden
damit den Erfolg erzieherischer Maßnahmen.
Kirsten Heisig, die 2010 verstorbene Jugendrichterin, war mehr als eine
scharfe Richterin. Sie hat durch das Anstoßen von Mütterinitiativen und das
Mobilisieren des unmittelbaren sozialen Umfelds von jugendlichen
Intensivtätern in Berlin viel erreicht. Aber sie ist als gutmeinende
Erzieherin auch gern einen Schritt zu weit ins Niemandsland vorgestoßen -
etwa mit ihrer Forderung zur Wiedereinführung der "geschlossenen
Unterbringung" insbesondere für straffällig gewordene, aber noch
strafunmündige "arabische" Kinder.
Sie hat für diese "Erziehungsmaßnahme" zum Schutz der Kinder sofort
lebhaften Beifall bekommen. Heisig wollte die Maßnahme als Instrument gegen
die ausbeuterischen - "arabischen" - Familien und Clans sehen, denen die
Kinder angehören. Doch wie lange sollen die Kinder in diesen Anstalten
bleiben? Was geschieht nach der möglichen Entlassung aus dieser Form der
Unterbringung? Wohin, wenn nicht zu ihren Familien werden diese Kinder und
Jugendlichen zurückkehren?
Zahlreiche Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte bemühen sich im Verbund
mit Kriminologen, Sozialarbeitern und Polizisten, das Beste zu schaffen.
Sie ermitteln bei den straffälligen Kindern und Jugendlichen die Ursachen
für deren Verhalten. Sie stimmen die im Jugendgerichtsgesetz vorgesehene
erzieherischen Maßnahmen darauf ab. Wohl bedenkend, dass das Ziel aller
"Strafen" ist, den Rechtsfrieden wiederherzustellen und den Jugendlichen
auf den "Pfad der Tugend" (zurück) zu führen.
Sich mit den Ursachen des kriminellen Verhaltens zu befassen, hat also den
Grund darin, die dem Jugendlichen gemäße erzieherische Maßnahme zu finden.
Da es stets nicht nur einen einzigen Grund gibt, der asoziales Verhalten
bewirkt, ist das Spektrum der möglichen Maßnahmen auch weit und räumt dem
Jugendrichter einen großen Gestaltungsspielraum ein.
Nun entwickelt sich aber exakt diese Ursachenforschung im Interesse der
Jugendlichen zu der Leine, an der man sie halten will. Wieso das?
Die mit den Problemen kriminell gewordener Kinder und Jugendlicher
befassten Personen haben mittlerweile einen umfangreichen Katalog von
möglichen Ursachen für abweichendes Verhalten zusammengetragen. In der
einschlägigen Literatur werden rund 20 solcher möglichen Gründe genannt.
Das reicht von schlechten Schulnoten über trunkene Eltern, schlechten
Umgang mit Gleichaltrigen, Auffälligkeiten in der Kindheit, mangelndem
Selbstbewusstsein und niedrigem Familieneinkommen bis zu ärmlichen
Wohnverhältnissen in heruntergekommen Stadtvierteln. Nun sind solche
Erkenntnisse über junge Menschen nicht immer bei einer Stelle konzentriert,
weshalb es denn auch schwierig ist, diese Daten in Bezug auf eine Person
zusammenzutragen.
Dieses Sammlungsproblem hat man durch die Einrichtung von kommunalen oder
regionalen "Präventionsräten" oder "runden Tischen" behoben. Alle Ämter und
Organisationen werden zusammengebracht - und damit alles Wissen, was nötig
ist, um einen Jugendlichen vor dem Abgleiten in die Kriminalität zu
bewahren - oder aber um ihn bereits zu "labeln", bevor er was getan hat: Je
mehr der vielen möglichen Gefährdungen bei einem Jugendlichen
zusammenfallen, desto vorsorglicher und nachhaltiger muss beobachtet und
schließlich eingegriffen werden. Vorbeugend selbstverständlich! Nur sind
sehr viel mehr Jugendliche solchen "Gefährdungen" ausgesetzt, als dann
schließlich kriminell werden. Als Prognoseinstrument sind solche
"Gefährdungskataloge" unbrauchbar.
"Die Jugend" ist die mit Abstand am besten überwachte Gruppe in unserer
Gesellschaft.
4 Jan 2011
## AUTOREN
Christoph Ehmann
## TAGS
Neukölln
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