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# taz.de -- ADHS im Alltag: Zwei Chaoten und die Liebe
> Bei ADHS denken viele automatisch an den Zappelphilipp. Doch die Störung
> bleibt – ein Leben lang. Und was passiert, wenn sich zwei, die ADHS
> haben, ineinander verlieben?
Bild: "Den Otto Normalverbraucher finden sie langweilig", so die Psychologin Ne…
Steffen schaut auf ein großes, leeres Blatt. Darauf soll er jetzt seine
Hochzeit planen. "Ich halte mich diskret im Hintergrund", sagt er. "Nein",
ruft Jana, seine zukünftige Frau, "lass uns anfangen, komm her!" Aber
Steffen will erst mal Kaffee trinken.
Jana ist ungeduldig: "Stef-fen! An-fan-gen!" Bis zum Jawort in einem halben
Jahr ist es noch ein weiter Weg. Tausend Dinge müssen vorbereitet werden -
selbst für strukturierte Menschen ein Kraftakt. Wie stellen das Paare mit
der Aufmerksamkeitsstörung ADHS an, für die schon der Alltag ein Kampf ist?
Jana ist 45, hat rötliche Haare, einen wachen Blick. Steffen ist 58, seine
krausen, grauen Haare sind wirr, er wirkt in sich gekehrt. Sie leben in
Berlin, beide haben ADHS. Ihren richtigen Namen möchten sie nicht in der
Zeitung lesen. Bei Jana wurde vor zehn Jahren ADHS diagnostiziert, bei
Steffen ist das sechs Jahre her. Bisher ist in Sachen Hochzeitsplanung
wenig geschehen. Sie haben Verwandten und Freunden geschrieben. Doch dann
war erst mal Ruhe. Heute soll die Planung losgehen. Auf einer Mindmap
wollen sie alles zusammentragen, was wichtig ist.
"Hast du deine Lesebrille?", fragt Jana. Keine Reaktion. "Steffen, wir
machen hier was zusammen!", ermahnt sie. "Holst du bitte deine Brille!"
Steffen sucht. Drei Minuten, nichts. Dann ruft er: "Ich hab sie doch nicht
eingepackt." Jana ist genervt, sie beschreibt das riesige Blatt allein.
"Doch, du hast sie mitgenommen." Steffen wühlt weiter. Dann sagt er: "Mist
aber auch. Die Brille ist nicht da." Jana seufzt. Nicht immer geht es so
harmonisch zwischen ihnen zu. An anderen Tagen fliegen die Fetzen.
Die beiden haben sich in einer ADHS-Selbsthilfegruppe kennengelernt, seit
anderthalb Jahren sind sie ein Paar. Als Steffen sie das erste Mal sah, war
er hin und weg von dem "Paradiesvogel", wie er sagt. Doch er zeigte seine
Gefühle nicht. Jana verließ die Gruppe. Der Paradiesvogel war weg. Fünf
Jahre vergingen, bis er sein Herz bei ihr ausschüttete. Jana war
überfordert: "Totale Panik habe ich bekommen. Denn entweder ist da ein
ganzer Sack Schmetterlinge im Bauch oder gar keiner." An ihrem
Verwirrungszustand hat sie dann gemerkt, dass da auch bei ihr "etwas los
war".
Steffen sagt: "Es war Liebe auf den ersten Blick, Windstärke 13." Beide
glauben, dass ADHSler intensiver lieben. "Es ist dann schwierig, einen
arbeitsfähigen Zustand aufrechtzuerhalten", sagt Jana. "Ich bin dann noch
verträumter und ablenkbarer." Als Steffen Jana zum Frühstück einlud, war er
unfähig, den Tisch zu decken, so durcheinander war er. Jana hat das dann
einfach gemacht.
Cordula Neuhaus kennt solche Geschichten gut. Die Psychologin und
Verhaltenstherapeutin befasst sich seit mehr als dreißig Jahren mit der
Störung und hat sich unter anderem auf ADHS-Paartherapie spezialisiert. Für
sie ist es das "Syndrom der extremen Gefühle": "Sie besitzen keine Bremse
für ihre Gefühle und bewerten alles emotional und oft viel zu schnell."
Bei ADHS denken die meisten Menschen automatisch an den Zappelphilipp. Doch
die Störung ist komplexer. Oftmals hört das Zappeln auf, wenn die
Betroffenen erwachsen werden. Aber die Krankheit verschwindet nicht, wie
lange Zeit angenommen wurde. ADHS bleibt. Ein Leben lang.
"Die Unfähigkeit zur Selbstregulierung ist der Kern der Störung", sagt
Neuhaus. Ursache ist eine Fehlfunktion des Belohnungssystems - das unter
anderem die Dopaminausschüttung steuert. ADHS-Kranke versuchen, das Fehlen
dieser Belohnung durch stimulierende Aktionen auszugleichen, jagen Kicks
hinterher. Ein großer Teil der Erwachsenen mit ADHS hat Erfahrungen mit
Selbstmedikation. Drogen-, Spiel- oder Sportsucht kommen häufiger vor als
bei Menschen ohne ADHS. Die Folge des Belohnungsdefizits: Für alles, was
nicht als stimulierend gilt, fehlt die Motivation. "Sie ist erst dann da,
wenn etwas lustvoll oder überlebensnotwendig erscheint", sagt Neuhaus.
Und so reagieren ADHS-Betroffene impulsiv auf alle möglichen
Umwelteinflüsse. Doch wenn sie von etwas fasziniert sind, dann
"hyperfokussieren" sie, blenden alles andere aus und können unglaubliche
Leistungen erbringen. Die Psychologin beobachtet bei der Paartherapie, dass
sich ADHSler fast immer von anderen Betroffenen angezogen fühlen: "Den Otto
Normalverbraucher finden sie langweilig." Nicht selten hätten ganze
Familien ADHS. So auch die zwei Söhne von Jana und der Sohn von Steffen.
Doch auch wenn sie sich besser als Menschen ohne ADHS in das Gefühlschaos
des anderen hineinversetzen können, ist eine solche Beziehung kompliziert.
Jana und Steffen hatten Angst, dass sich das Chaos potenziert, wenn sie
zusammenkommen. Aber die beiden gehen meist sehr liebevoll miteinander um.
Hin und wieder fallen sie sich ins Wort und ermahnen sich gegenseitig. Oft
gibt es Missverständnisse. "Ich gehe dann wie eine Rakete los", sagt Jana.
Manchmal wirft sie dann auch mit Gegenständen. Während Steffen sich häufig
verzettelt und morgens ein, zwei Stunden braucht, um "ins Gleis zu kommen",
kann es Jana gar nicht schnell genug gehen.
Wenn Steffen einen schlechten Tag hat, ist er völlig unstrukturiert. An
solchen Tagen, sagt er, hat er ein Kurzzeitgedächtnis wie eine
Eintagsfliege. Verabredungen sind Minuten später wieder vergessen. Es kommt
vor, dass er sagt: Ja, alles klar. "Später ist es so, als hätte ich nie
irgendetwas gesagt. Das ist doch irre." Neuhaus nennt dieses Abschalten
"Bildschirmschonergefühl". Bei ADHS-Kranken schaltet sich das hintere
Aufmerksamkeitssystem einfach ab. "Entweder ist es aktiv oder nicht - wie
bei einem Computer", erklärt die Therapeutin. "Erst bei positiver Stimmung
wird es wieder aktiv."
Steffen hat über die Jahre gelernt, dass er sich Zeit für sich selbst
nehmen muss. Jana und Steffen haben beide bewegte Biografien, litten an
Depressionen - typisch für Menschen mit ADHS. Wird die Störung spät
diagnostiziert, kommen fast immer Begleiterkrankungen hinzu. "Ein
Erwachsener mit ADHS ohne Begleiterkrankungen, das ist fast wie ein Sechser
im Lotto", sagt Neuhaus.
Janas Leben hört sich an wie eine stetige Suche nach dem Kick. Als Kind
sprang sie von hohen Bäumen, brach sich die Knochen. Später begann sie, ihr
"Feierabendtütchen" zu rauchen, und experimentierte am Arzneischrank. Immer
wieder zog sie um, begann Ausbildungen, brach sie wieder ab, wurde
Alkoholikerin. Seit vier Jahren ist sie trocken. Heute hilft ihr Yoga,
Krisen zu überstehen. Früher hätte sie sie in Alkohol ertränkt.
Auch das Berufsleben ist bei ADHSlern kompliziert. Steffen hat sich mit
Chefs überworfen, drei Ausbildungen abgeschlossen. Suchtkrank war er nie,
sagt er, aber er habe sich jahrelang vernachlässigt. Wenn er nach dem
harten Pflegejob nach Hause kam, wartete sein Sohn. "Dessen ADHS ist so
extrem, dass er in drei Stunden die Bude in Schutt und Asche legen kann",
erzählt Steffen. Jana wurde bei der Arbeit gemobbt, hat Probleme mit
Strukturen und Autoritäten. Nun hat sie sich selbstständig gemacht, gibt
Yoga- und Ernährungskurse.
ADHSler, das sieht man auch an Jana und Steffen, sind Stehaufmännchen. "Wir
haben etwas, was andere nicht haben", sagt sie. "Manchmal ist das
anstrengend, aber es wird nie langweilig. Es geschehen lustige,
unvorhergesehene Dinge." Die beiden sehen ihre Krankheit nicht als Störung,
sondern als Bereicherung.
1 Jan 1970
## AUTOREN
Martin Rank
Martin Rank
## TAGS
Psychologie
Schauspieler
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