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# taz.de -- Belgier demonstrieren für Regierung: Facebook-Revolte gegen die "S…
> In Brüssel haben 50.000 Menschen für ein Ende der belgischen Dauerkrise
> demonstriert. Der Protest geht auf eine vor wenigen Tagen gegründete
> Online-Initiative zurück.
Bild: Staatstragend: Shame Online auf Facebook.
BRÜSSEL taz | Eine außergewöhnliche Bürgerinitiative versucht, Belgien zu
retten. 50.000 Belgier haben am Sonntag in ihrer Hauptstadt Brüssel
demonstriert, um die Politiker ihres Landes zu beschämen, die 223 Tage nach
den letzten Wahlen immer noch keine Regierung gebildet haben.
Selten wurde ein Massenprotest so schnell auf die Beine gestellt: Erst zehn
Tage zuvor hatten sich fünf Studenten in einem Café getroffen und
beschlossen, eine [1][Facebook-Seite] zu gründen, um unter dem englischen -
also sprachpolitisch neutralen - Wort "Shame" (Schande) zu einer Kundgebung
gegen die Politiker ganz Belgiens aufzurufen. Vier der fünf sind Flamen,
einer kommt aus Brüssel; zu den Flamen gehört Félix De Clercq, der Sohn des
bisherigen Justizministers.
Bei Belgiens Wahlen am 12. Juni 2010 hatten zwei Parteien gewonnen, die
miteinander kompromissunfähig sind: auf flämischer Seite die
separatistische und populistische "Nieuw Vlaamse Alliantie" (NVA) von Bart
De Wever, im wallonischen Lager die frankophonen Sozialisten von Elio di
Rupo. Versuche einer Regierungsbildung scheitern seither an der Frage, wie
viele Kompetenzen vom Bundesstaat Belgien an die reichere Region Flandern
verlagert werden sollen und ob frankophone Bewohner einiger Gemeinden im
Brüsseler Umland mit der Verwaltung auf Französisch kommunizieren dürfen,
obwohl ihre Wohnorte in Flandern liegen.
Sieben Monate lang hat König Albert alles versucht. Er benannte einen
Konziliator, einen Mediator, einen Fazilitator, sogar einen "Präformator".
Alles vergeblich. Die belgische Politik ist gelähmt. Gewerkschaften und
Arbeitgeber sind zunehmend besorgt. Maßnahmen zum Schuldenabbau können
nicht beschlossen werden, was in der derzeitigen Krise des Euroraums ein
Problem darstellt. Die Ratingagentur Standard & Poors hat das
mittelfristige Länderrisiko Belgiens schon von "stabil" auf "negativ"
herabgesetzt. In Brüssel halten es Ökonomen nur noch für eine Frage der
Zeit, bis Spekulanten gegen den Euro Belgien ins Visier nehmen.
All diese Befürchtungen und noch viele andere mehr machten sich am
Sonntagnachmittag Luft auf dem Demonstrationszug, der vor allem aus
Jugendlichen bestand, die aus dem gesamten Land angereist waren. "Gefangene
der Wetstraße" stand auf einem flämischen Transparent, mit Verweis auf die
Straße, wo sich Belgiens Regierungssitz befindet. "Freiheit für die Tiere,
Bart in den Zoo" verlangte ein anderes mit dem Flamenführer als Adressat.
Eine Kongolesin trägt ein Transparent mit der Aufschrift: "Belgien ist eine
Chance, vergeudet sie nicht".
Auf mehreren findet sich eine Rechnung, die Bart De Wever nicht gefallen
dürfte: "1 -71 = 0" - Flandern minus Wallonien gleich null. Als einzige
politische Partei versuchte die winzige maoistische PVDA (Partij Van De
Arbeid), mit ihren roten Fahnen am Schluss des Demonstrationszuges die
Kundgebung für sich zu vereinnahmen.
"Die Politiker machen keine Politik mehr", empört sich der bekannte
Karikaturist Philippe Geluck, der wie viele andere Intellektuelle
mitdemonstriert, und freut sich zugleich: "Dies ist die
Muschel-Fritten-Revolution." Muscheln und Fritten gelten als die belgischen
Nationalgerichte. Der 23-jährige Demonstrationsorganisator Simon
Vandereecken gibt die allgemeine Stimmung wieder: "Wir verlangen nur, dass
die Politiker ihre Arbeit machen."
Immerhin reagieren die Politiker jetzt. Man verstehe den Frust der
Menschen, lautet der Refrain. Man habe nicht vor, den von Irak gehaltenen
Weltrekord der Langsamkeit bei der Regierungsbildung zu brechen, sagte Bart
De Wever vor einer Versammlung seiner NVA. "Wir werden nicht bloß, weil wir
keine Lust mehr haben, eine Regierung bilden", meint dagegen der
Christdemokrat Benoît Cerexhe. Der sozialistische Parlamentspräsident André
Flahaut findet sogar, die langen Verhandlungen seien nützlich gewesen. Die
Webseite [2]["Shame"] bleibt derweil online. Es soll ja noch weitere
Aktionen geben, um Belgiens politische Klasse aufzurütteln.
24 Jan 2011
## LINKS
[1] http://www.facebook.com/shameonline
[2] http://www.230111.be/
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