# taz.de -- Alltag in Brüssel: Nordlichter und Südländer | |
> Peter ist flämisch, Marylène frankophon. Das Paar wohnt in Meise, wo sich | |
> die beiden Volksgruppen mischen. Vom Kleinkrieg der Politiker und | |
> Bürokratien sind sie nur noch genervt. | |
Bild: Bis Belgien endlich eine neue Regierung bekommt, bleibt das Kabinett von … | |
Die Häuser aus braun-gelben Backsteinen in der Jan-van-Eyden-Straße sehen | |
aus wie lauter identische Kopien. Getrennt werden sie durch kleine | |
Vorgärten mit kurzem grünen Rasen und Blumenbeeten. Nur die Farbe der | |
Blüten variiert von einem Garten zum nächsten. Marylène Mathonet geht | |
langsam an der Häuserreihe vorbei und nickt jedem Haus kurz zu: "Flämisch, | |
frankophon, flämisch, flämisch, frankophon", zählt die junge Belgierin auf. | |
In Meise, einem Ort, der nur ein paar Kilometer von der belgischen | |
Hauptstadt Brüssel entfernt liegt, mischen sich die beiden belgischen | |
Volksgruppen in der Nachbarschaft. | |
Marylène Mathonet bleibt vor einem der Häuser stehen, dessen Fassade frisch | |
gestrichen wirkt. "Hier wohnen wir. Unser Nachbar nebenan ist ein | |
Frankophoner, gegenüber wohnt eine Flämin. Und wir haben beides unter einem | |
Dach. So ist Belgien", sagt die 29-Jährige und lacht. | |
Sie ist die Frankophone im Haus; kommt aus dem wallonischen Lüttich. Ihr | |
Freund Peter Verbist ist in Antwerpen geboren worden und in Meise vor den | |
Toren Brüssels aufgewachsen. Seit gut drei Jahren wohnen die beiden | |
zusammen in Peters flämischer Heimatstadt. Sie sind eines von vielen | |
wallonisch-flämischen Pärchen im Land. "Ich fühle mich belgisch. Einer | |
meiner Großväter war sogar flämisch. Hier zu wohnen, macht mir nichts aus", | |
sagt die junge Frau und fährt sich mit der Hand durch ihre blonden Haare. | |
Dass sich die flämischen und die frankophonen Parteien schon seit mehr als | |
einem Jahr nicht auf eine [1][gemeinsame Regierung] einigen können, ist für | |
sie nicht nachvollziehbar. Ihr gehen die endlosen Diskussionen der | |
Politiker auf die Nerven. "Am Anfang habe ich mir die Nachrichten noch | |
angeschaut, aber in der Zwischenzeit schalte ich um. Die schaffen es doch | |
eh nicht, sich zu einigen", sagt sie und stellt sich neben ihren Freund, | |
der in der Garageneinfahrt mit dem Nachbarn André schwätzt. | |
Das Paar ist vor ein paar Tagen aus dem Urlaub aus Kanada zurück gekommen | |
und hat André Ahornsirup und Schnaps mitgebracht. Der Nachbar lehnt an | |
seinem Auto und raucht. Sofort will er seine Geschichte zum | |
flämisch-wallonischen-Kleinkrieg beitragen. Er hat Multiple Sklerose (MS) | |
und verkauft jedes Jahr für den flämischen MS-Verband Schokolade, um Geld | |
zu sammeln. Jetzt wollte er in einer flämischen Nachbargemeinde aushelfen, | |
als der dortige Ortsverein Freiwillige für einen Fahrdienst suchte. | |
"Ich habe da sofort angerufen. Ich habe ja Zeit und kann noch Auto fahren. | |
Aber als die meinen frankophonen Akzent gehört haben, wollten sie mich | |
nicht haben. Das grenzt an Rassismus", erzählt der Belgier. Jetzt will er | |
auch keine Schokolade mehr für die Flamen verkaufen. Solche Erlebnisse habe | |
er immer öfter, sagt er. Einige seiner frankophonen Bekannten, die in | |
flämischen Gemeinden rund um Brüssel wohnen, bekämen ihre Einschreiben | |
nicht zugestellt. In der flämischen Schule seiner Enkeltochter dürften die | |
Kinder auf dem Pausenhof nicht mehr französisch reden. | |
## Strenge Regeln | |
Marylène schüttelt den Kopf. Sie hat sich mit vielem mittlerweile einfach | |
abgefunden. Obwohl Meise so nah an Brüssel liegt, gelten hier die strengen | |
flämischen Regeln: Im Eingangsbereich der Stadtverwaltung hängt ein großes | |
Schild: "Hier wird flämisch gesprochen." Diejenigen, die der Sprache nicht | |
mächtig sind, sollen mit Übersetzer wieder kommen. Das ist hart, aber eben | |
normal in Flandern, auch wenn die meisten Stadtbediensteten französisch | |
sprechen können. Marylène ist kurz nach ihrem Umzug immer mit Peter zur | |
Verwaltung gegangen, um keine Probleme zu bekommen. Mittlerweile traut sie | |
sich alleine hin. "Obwohl sie bestimmt meinen Lütticher Akzent erkennen, | |
habe ich keine Probleme dort." | |
Sie zieht ihren Personalausweis aus der Tasche. Auch ein Kuriosum der | |
belgischen Janusköpfigkeit. Alle Angaben sind dort in Flämisch gemacht. | |
Auch das ist Pflicht in Flandern, obwohl Marylènes Muttersprache | |
Französisch ist. Immerhin kann sie bei den Wahlen selbst entscheiden, ob | |
sie flämischen oder frankophonen Parteien ihre Stimme geben will. | |
Meise gehört zum Wahlkreis "Brüssel-Halle-Vilvoorde" (BHV) und liegt damit | |
mitten im Zentrum der Streitigkeiten zwischen den flämischen und den | |
frankophonen Politikern. Bisher dürfen nämlich die Frankophonen, die in | |
diesen Gemeinden wohnen, auch frankophone Parteien wählen. Ansonsten gilt | |
in Belgien: In Flandern wird flämisch gewählt; in der Wallonie frankophon. | |
Die nationalistische flämische Partei N-VA, die in Flandern die Wahlen im | |
vergangenen Juni gewonnen hat, will das Privileg der Frankophonen im | |
BHV-Wahlkreis abschaffen. Die frankophonen Parteien lehnen das bisher ab. | |
Marylène Mathonet findet ihre Wahlfreiheit gut. "Ich schaue nicht auf die | |
Sprache der Politiker, sondern welches Programm mir besser gefällt. Hier | |
vor Ort wähle ich oft flämische Parteien. Aber bei den landesweiten Wahlen | |
gebe ich eher den Frankophonen meine Stimme." | |
## Symbol Fernseher | |
Marylène und Peter, die seit sechs Jahren ein Paar sind, verabschieden sich | |
von ihrem Nachbarn und lassen sich drinnen auf ihr schwarzes Ledersofa vor | |
den Fernseher fallen. Der sei ein Symbol, sagt die Belgierin, für den | |
"belgischen Kompromiss", den sie in ihrem Zusammenleben geschlossen haben: | |
"Wir sprechen französisch, aber wir schauen ausschließlich flämische | |
Fernsehprogramme an." | |
Die beiden haben nur selten Diskussionen über die politischen Probleme im | |
Land. Und wenn, dann nehmen sie sie mit Humor. "Wir schließen zum Beispiel | |
Wetten ab, ob in einer bestimmten Zeit mehr Flamen oder mehr Wallonen | |
negative Schlagzeilen machen", sagt Peter. "Meistens gewinne ich", fügt er | |
mit einem Schmunzeln hinzu und fängt sich prompt einen bösen Blick von | |
seiner Freundin ein. "Wir verstehen uns gut, weil wir als Personen viele | |
Gemeinsamkeiten haben. | |
Aber es gibt schon Unterschiede zwischen Flamen und Wallonen", sagt er | |
dann. Die Flamen seien reservierter und oft sogar schüchtern. Marylène | |
stimmt ihm zu. "Das geht sogar so weit, dass die Flamen auf der Straße | |
nicht grüßen. Das ist keine Unfreundlichkeit. Die sind einfach so." Die | |
Flamen seien Nordlichter, die Wallonen gehörten zu den Südländern wie die | |
Franzosen oder die Italiener. Sie würden alles mit mehr Gelassenheit | |
nehmen, manchmal auch zu gelassen, meint Peter. "Wir sind in Flandern | |
einfach besser organisiert. Sogar unsere Straßen haben weniger Schlaglöcher | |
als in der Wallonie." | |
## Keine Absprachen | |
Auch als Marylène Mathonet am nächsten Morgen zur Arbeit fährt, stößt sie | |
auf die belgisch-belgischen Unstimmigkeiten. Sie fährt über den Ring, eine | |
Art Stadtautobahn, nach Brüssel. Zurzeit wird da gebaut - auf flämischem | |
Hoheitsgebiet -, und fast jeden Morgen steht die junge Frau mindestens eine | |
halbe Stunde im Stau. "Eigentlich würde ich über Nebenstraßen ausweichen. | |
Aber die Brüsseler und die Flamen sprechen sich nicht ab. Also wird überall | |
gleichzeitig gebaut und der Verkehr bricht völlig zusammen", sagt Marylène | |
und parkt ihr Auto in der Tiefgarage ihres Bürogebäudes. | |
Während sie zu Hause französisch spricht, dominiert bei der Arbeit die | |
andere Landessprache: "Meine Geschäftspartner kommen größtenteils aus | |
Flandern oder aus den Niederlanden. Da ist es wichtig, dass ich in ihrer | |
Sprache kommuniziere", sagt die Belgierin, die für das | |
Dienstleistungsunternehmen Sodexo arbeitet. Ihre Sprachkenntnisse öffnen | |
ihr viele Türen, sagt sie. | |
Sie hat Glück, weil sie von klein auf auch Flämisch gelernt hat. Aber in | |
den meisten frankophonen Schulen in Belgien lernen die Kinder nur ein Jahr | |
lang die zweite Landessprache. Die meisten haben nach ihrem Abschluss dann | |
kaum Kenntnisse. "Und das wird ihnen später zum Verhängnis. Viele | |
Arbeitgeber verlangen Zweisprachigkeit. Aber wir werden nicht entsprechend | |
ausgebildet", beklagt Marylène. Erst in der vorigen Woche, erzählt sie, sei | |
eine Kandidatin abgelehnt worden, weil sie in ihrem Lebenslauf nur | |
"Grundkenntnisse" in Flämisch angegeben hatte. | |
Jeden Tag überquert Marylène Mathonet die imaginäre Grenze zwischen | |
Flandern und der Wallonie mehrfach. Sie glaubt nicht, dass sich das Land | |
tatsächlich spalten wird. Aber selbst wenn es so weit kommen sollte, würde | |
sie nicht aus Flandern wegziehen. "Meine Mutter hat Angst und fragt mich | |
oft, was mit uns passiert, wenn sich das Land teilt. Aber ich fürchte mich | |
nicht. Wir schießen schließlich nicht aufeinander. Und das wird auch nie | |
passieren." | |
11 Jul 2011 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Ruth Reichstein | |
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