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# taz.de -- Historikerin über gepanschte Lebensmittel: "Skandale machen das Es…
> Gips im Mehl, Hirn in der Milch – Vera Hierholzer forscht zur Geschichte
> der Lebensmittelskandale.
Bild: Skandalnudel oder Nudelskandal?
taz: Frau Hierholzer, nach den letzten Lebensmittelskandalen gilt das Ei
von Nachbars Huhn als sicherer als das mehrfach geprüfte aus dem
Supermarkt. Ist das irrational?
Vera Hierholzer: Dahinter steckt die Angst, nicht zu wissen, was in der
Nahrung steckt - ein ganz altes Phänomen. Aber eigentlich ist die Aufregung
eher ein Zeichen dafür, was für hohe Qualität wir bei Nahrungsmitteln aus
dem Handel gewohnt sind.
Wie bitte?
Wenn man in langen Zeitlinien denkt, wird unser Essen immer besser. Ich
erforsche die Phase, in der die Menschen aufhörten, sich selbst zu
versorgen: den Beginn industrialisierter Lebensmittel in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts. Insgesamt wurde die Ernährung so reichhaltiger und
vielfältiger, besonders was die Versorgung der breiten Bevölkerung
betrifft. Die letzte große Hungerkrise in Deutschland war vorher, um 1840.
Waren die Ängste damals die gleichen wie heute?
Zumindest gab es bereits in den 1870er Jahren ähnlich emotionale Debatten
über die schlechte Qualität von Lebensmitteln. Die Autoren in den Zeitungen
fragten, ob es überhaupt noch etwas gebe, das nicht gepanscht ist, und
diskutierten darüber, wo man noch ehrliche Produzenten finden könne. Sie
schimpften auf die kapitalistischen Unternehmer und warfen ihnen vor, in
der Produktion gegen Ehrprinzipien zu verstoßen. Auch Forderungen an den
Staat wurden laut.
Wie sahen die Lebensmittelskandale vor 150 Jahren aus?
Schon vor der Industrialisierung wurde gestreckt und gepanscht, um einen
besseren Preis zu erzielen. So kam Gips oder Kalk in das Mehl. Die
Säuglingssterblichkeit war hoch, weil kaum Milch in hoher Qualität zu
bekommen war. Sie wurde mit Wasser verdünnt, für Konsistenz und Farbe wurde
dann wieder Mehl zugesetzt. Wenn man den Quellen glaubt, wurde dafür auch
Hirn genutzt. Jeder Zwischenhändler hat da ein bisschen weiter gestreckt.
Also stand industrielle Herstellung nicht für mehr Sicherheit?
Zu Beginn nicht. Die Konservendosen zum Beispiel, die zum Symbol für die
neue Nahrungsmittelindustrie wurdenm, waren berüchtigt, besonders die aus
den USA. Die Sterilisationsverfahren waren noch mangelhaft, sodass Keime
nicht richtig abgetötet wurden. So soll es auch zu Todesfällen gekommen
sein.
Auf Skandale folgen heute Qualitätsoffensiven - damals auch schon?
In den 1870er Jahren entstanden auch die ersten Grenzwerte für
Lebensmittel, 1879 das erste Nahrungsmittelregulierungsgesetz. Schon vorher
bildete sich langsam die Nahrungsmittelchemie als eigenes Fach heraus. Die
Forscher verfeinerten die Analyse immer mehr und konnten so Verfälschungen
feststellen. Die Lebensmittelhersteller griffen das auf und warben mit
Qualitätsversprechen.
Waren deshalb auch Lebensmittel die ersten Markenprodukte?
Die Hersteller versuchen auf diese Weise, das Vertrauen zurückzugewinnen.
Marken wie Dr. Oetker und Maggi entstanden in den 1870er und 1880er Jahren.
Der Verbraucher wusste damit, welche Firma genau dahintersteckt, und konnte
sanktionieren, wenn es Probleme gab.
Mit großen Marken und einer mächtigen Lebensmittelindustrie verbinden
Konsumenten heute trotzdem die Befürchtung, an der Nase herumgeführt zu
werden.
Aber Kampagnen von Branchenführern bewirken nicht immer, was sie sollten.
Zum Beispiel geriet Margarine, die 1860 erfunden wurde, zwar früh in
Verruf, ein minderwertiges Produkt zu sein, weil Butterproduzenten gegen
den Konkurrenten Gerüchte in die Welt setzen, etwa dass in der
Margarineherstellung Abdeckereifette eingesetzt würden.
Klingt doch nach erfolgreichem Schmutzmarketing.
Aber es war kontraproduktiv: Die Politik wurde aktiv und verabschiedete in
den 1880er Jahren strenge Margarinegesetze, die die Produktion
reglementierten. Dadurch vertrauten immer mehr Konsumenten dem neuen Fett.
Die Hersteller mussten Margarine mit einem roten Streifen verpacken, damit
sie sich deutlich von der guten Kuhbutter abhebt. Aber so wurde die
Margarine im Handel erst richtig sichtbar.
Wer konnte sich geprüfte Markenprodukte damals leisten?
Es war vor allem das Bürgertum, das sich mit der Qualität von Lebensmitteln
befasste. Arbeiter mussten zu Beginn der Industrialisierung fast ihren
gesamten Lohn für Essen ausgeben. Produkte wie Maggie oder Fleischextrakt
waren für sie gedacht, aber die Produktion war zu teuer. Arbeiter mussten
beim Handel oft anschreiben lassen. Und da der Händler nicht wusste, ob er
das Geld je bekam, hat er ihnen bewusst schlechtere Ware untergeschoben.
Also ist Jammern ein Zeichen für Luxus?
Um die Qualität kümmert man sich, wenn die Versorgung gesichert ist. Das
sieht man im Ersten Weltkrieg gut: In dem Moment, in dem Lebensmittel knapp
werden, spielt Qualitätssicherung kaum noch eine Rolle.
Aber dass vor 200 Jahren Gips im Mehl war, ist doch kein Grund, jetzt
Giftspuren in Eiern zu akzeptieren.
Nein, ich will auch nichts verharmlosen. Ich denke schon, dass wir ein
Problem haben: Es gibt Unternehmen, die die Distanz zum Verbraucher
ausnutzen und panschen. Aber die Ernährung für die breite Bevölkerung ist
heute so abwechselungsreich und gut wie noch nie. Und in dieser Beziehung
haben Lebensmittelskandale ihren Sinn: Sie führen langfristig dazu, dass
Lebensmittel besser werden.
5 Feb 2011
## AUTOREN
Martin Rank
## TAGS
Landwirtschaft
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