# taz.de -- Flüchtlinge aus Iran: Zur Begrüßung ein Paar Handschellen | |
> Vor eineinhalb Jahren floh Sadegh Amiri von Iran nach Deutschland. | |
> Seitdem wartet er auf eine Entscheidung über seinen Asylantrag. So wie | |
> Tausende andere. | |
Bild: Seit fünf Monaten befindet sich Sadegh Amiri in psychologischer Behandlu… | |
BERLIN taz | Das Warten hat Sadegh Amiri mürbe gemacht. Depressiv. Seit | |
fünf Monaten befindet sich der Kurde in psychologischer Behandlung. Wann | |
über den Asylantrag des Iraners, der über Griechenland nach Deutschland | |
einreiste, entschieden wird, ist ungewiss. Obwohl Deutschland nun offiziell | |
zuständig ist, kann es bis zu einer Entscheidung noch dauern. Tausende | |
Asylbewerber hängen in der Warteschleife. Sadegh Amiri ist einer von ihnen. | |
Im zweiten Stock eines roten Backsteinbaus in Berlin-Kreuzberg wohnt Sadegh | |
Amiri. Das Gebäude war einst ein Zeughaus, später eine Schule, die Gänge | |
wirken steril und leer. Gemütlich ist anders. Das Diakonische Werk leitet | |
das Wohnheim, in dem Flüchtlinge aus aller Welt leben. Sein Zimmer teilt | |
sich der 30-Jährige mit zwei anderen Männern, ebenfalls aus dem Iran. | |
Das Inventar des Zimmers ist schnell aufgelistet: ein Schrank, ein | |
Stockbett, ein Einzelbett, eine Spüle und ein Tisch mit drei Stühlen. Seit | |
einem Jahr verbringt der junge Mann einen Großteil seiner Zeit damit auf | |
dem Bett zu sitzen. Und zu warten. Dann denkt er oft an die Tage im Juni | |
2009 zurück. Tage, die sein Leben verändern sollten. | |
Der gelernte Schneider, der in Kermanshah im Südosten des Irans ein kleines | |
Unternehmen mit vier Angestellten führte, erinnert sich gut an den 13. Juni | |
2009, Wahltag im Iran. "Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben gewählt", | |
sagt er und blickt auf den Holztisch. Seine Finger verhaken sich | |
ineinander. "Hossein Mussawi hat Hoffnungen in meinem Land geweckt, | |
Hoffnung auf Reformen, Wandel, Freiheit. Hoffnung auf ein besseres Leben, | |
in dem die Rechte von religiöse Minderheiten geschützt werden." | |
Der Herausforderer von Präsident Mahmud Ahmadinedschad versprach zwischen | |
Sunniten und Schiiten zu vermitteln, den Frieden zurück ins Land zu | |
bringen. Wahlversprechen, die Sadegh Amiri an die Wahlurne trieben. Zum | |
ersten Mal in seinem Leben füllte er einen Stimmzettel aus. Er war nie ein | |
politischer Mensch. Seine Familie war ihm wichtig, sein Unternehmen, seine | |
Freunde. Der Sieg des Reformers Mussawi stand für den Schneider außer | |
Frage. Ein Irrtum. | |
Der erste Schock | |
Die Wiederwahl des Hardliners Ahmadinedschad war für Sadegh Amiri ein | |
Schock. "Ich kannte niemanden, der dem amtierenden Präsidenten seine Stimme | |
gegeben hatte". Ein umstrittener Wahlsieg, der weltweit für Proteste | |
sorgte. Von Wahlfälschung war die Rede, von Betrug. "Was war mit unserer | |
Wahl, wo waren unsere Stimmen hin?", fragt der junge Mann. Seine Stimme | |
wird leiser. "Zusammen mit Freunden ging ich auf die Straße, demonstrierte | |
gegen den Ausgang der Wahlen". | |
Schnell verbreitete sich in der protestierenden Menge das Gerücht, die | |
berüchtigte Basidsch-Miliz habe Männer in Zivil unter die Menschen | |
gemischt, "aber wir konnten sie nicht erkennen, wussten nicht wer sie | |
waren". Die "Freiwilligenmiliz", wie die Basidsch übersetzt heißt, gilt als | |
mächtige Organisation mit kaum durchschaubaren Strukturen. Die Horde von | |
Landsknechten, die einst von Ajatollah Chomeini zu Schergen des Regimes | |
gemacht wurden, verbreitet seit Jahren Angst und Schrecken im Iran. | |
Es war an einem der ersten Tage während der Demonstrationen, als Sadegh | |
Amiri plötzlich von Männer zur Seite gezerrt wurde. "Ich musste meinen Pass | |
vorzeigen", sagt der Iraner, "dann konnte ich wieder gehen." Ein | |
Einschüchterungsversuch. Von Tag zu Tag nahm die Gewalt gegen die | |
Demonstranten zu. | |
"Am sechsten Tag kam plötzlich Bewegung in die Menge", erinnert sich Sadegh | |
Amiri, "die Basidsch schlugen auf die Menschen ein. Immer wieder. Ich bekam | |
Angst und rannte los." Doch er kam nicht weit, Männer der Miliz hefteten | |
sich an seine Fersen, er fiel hin. "Dann sind sie über mich hergefallen." | |
Mit Stöcken schlugen sie auf den wehrlosen Mann ein. Immer wieder. "Auf | |
meinen Kopf, meinen Körper." | |
Der schüchterne Mann krempelt seinen linken Hemdsärmel hoch und zeigt eine | |
etwa sieben Zentimeter lange Narbe. An dieser Stelle brach sein Arm. "Sie | |
zogen mich hoch und schleppten mich raus aus der Menge. Ich sah das Ziel: | |
ein Auto. Und bekam Angst." Er versuchte, sich trotz seiner Verletzungen zu | |
befreien. Und er hatte Glück: "Unbekannte Menschen kamen mir zur Hilfe, | |
zerrten mich aus den Armen der Männer." | |
Blutüberströmt, aber befreit rannte er um sein Leben. Freunde sahen ihn und | |
brachten ihn in Sicherheit. In der Nacht kam sein älterer Bruder in das | |
Haus des Freundes, der Sadegh Amiri versteckte. Ein Zahnarzt versorgte | |
seine Wunden. | |
Rückkehr unmöglich | |
Am nächsten Tag fuhr ihn sein Bruder aufs Land. Im Obstgarten seines Vaters | |
versteckte er sich für mehrere Tage. "Ich war mir sicher, in ein paar Tagen | |
zu meiner Familie zurückzukönnen." Doch das sollte unmöglich werden. Die | |
Polizei durchsuchte das Haus der Eltern, entwendete Gegenstände aus dem | |
Zimmer des Mannes. "Mein Bruder empfahl mir zu fliehen." Es sei das Beste | |
für Sadegh und seine Familie. "Hätte ich gewusst, wie sehr ich hier leiden | |
würde?" Sadegh Amiri beendet den Satz nicht. Er seufzt, weiß, dass der | |
Gedanke zwecklos ist. Trotzdem geht er ihm wieder und wieder durch den | |
Kopf. | |
Wenn Sadegh Amiri den roten Backsteinbau verlässt, passiert er einen | |
Discounter, mit Graffitis beschmierte Häuser, den obligatorischen Spätkauf. | |
Mit der S-Bahn fährt er zu einem Psychologen, der ihm helfen soll, das | |
Erlebte zu verarbeiten. "Ich gehe nicht oft raus", sagt er und zeigt ein | |
leises, schüchternes Lächeln. Manchmal treffe er sich mit neuen Freunden, | |
Kurden und Perser. Deutsche Freunde habe er noch nicht gefunden. | |
Sprachbarrieren erschweren die interkulturelle Kommunikation. Deutsch | |
spricht er nur bruchstückhaft. Es sind Worte, die er auf der Straße | |
aufgeschnappt hat. | |
"Die Möglichkeit einen Deutschkurs zu besuchen, habe ich nicht. Dabei würde | |
ich die Sprache gern lernen." 200 Euro bekommt Sadegh Amiri im Monat. "Und | |
die S-Bahn-Fahrkarte gibt es gratis dazu, weil ich zu meinem Psychologen | |
fahren muss." Erst nach Monaten auf der Warteliste bekam er den begehrten | |
Platz bei dem Therapeuten. Über die Flucht zu reden, fällt ihm trotzdem | |
noch schwer. Wieder sinkt sein Blick zu Boden. Dann beginnt er zu sprechen. | |
"Mein Bruder hat den Transport für mich organisiert", sagt er. Seine | |
Familie gehöre zur iranischen Mittelschicht. "Ich bin kein | |
Wirtschaftsflüchtling, ich bin nicht freiwillig hier", sagt er, als müsse | |
er sein Dasein in Deutschland verteidigen. Das Geld für die Schlepper | |
bezahlte seine Familie. In der Stadt Urmia im Grenzgebiet zur Türkei sollte | |
die Reise beginnen. "Ich verbrachte 24 Stunden auf der Ladefläche eines | |
Lastwagens, versteckt hinter Kisten. Kurz nach unserer Ankunft in der | |
Grenzstadt begann der lange Weg über die Grenze." | |
Fünf Tage marschierten sie in einer kleinen Gruppe, in der sowohl Iraner | |
als auch Afghanen waren, über die Berge. Dann pickte ein Lastwagen sie auf. | |
Eine Odyssee begann. "Ich möchte mich an diese Wochen nicht | |
zurückerinnern", sagt der Kurde und schüttelt den Kopf, zu schlimm seien | |
die Erinnerungen. Das versprochene Boot, das die Gruppe nach Griechenland | |
bringen sollte, kam nicht. So ging es über Land weiter. Irgendwann | |
passierten sie die Grenze und erreichten Athen im August 2009. | |
Gefälschte Papiere | |
"Hier habe ich die Hölle gesehen", sagt Sadegh Amiri. Die Versorgung der | |
Flüchtlinge sei katastrophal. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat | |
unterstützt diese Ansicht. Es berichtet von unmenschlichen Zuständen für | |
Asylsuchende, den Menschen drohe Gefahr für Leib und Leben. "Ich habe viele | |
Menschen gesehen, die im Müll gewühlt, auf Pappkartons geschlafen und auf | |
Wochenmärkten um Essen gebettelt haben." Sadegh Amiri wurde von einer | |
christlichen Mission mit Nahrungsmitteln unterstützt, hatte genug Geld bei | |
sich, um in der Wohnung der Schlepper Unterschlupf zu finden. | |
"Einige Asylbewerber werden kriminell, andere prostituieren sich", sagt | |
Amiri. Für den Schneider stand schnell fest, dass er hier nicht bleiben | |
konnte. Mit einem bulgarischen Pass und einer gefälschten Bordkarte floh er | |
aus Griechenland. Über zwei Monate nach den iranischen Wahlen landet der | |
Iraner am Berliner Flughafen Tegel, wo ihn die Grenzpolizei mit | |
Handschellen empfing. "Im Gegensatz zu Griechenland war das Gefängnis in | |
Berlin-Köpenick ein Paradies." Wegen illegaler Einreise wurde er zu einem | |
Monat Haft verurteilt. | |
Die größte Furcht des Iraners während seiner Zeit im Gefängnis hatte der | |
Iraner vor der Rückführung nach Griechenland. "Ich fühlte mich machtlos und | |
war froh, einen Anwalt an meiner Seite zu haben." Doch anstelle der | |
gefürchteten Rückführung kam es zur Haftverlängerung. "Man erzählte mir, | |
dass meine Akte nicht auffindbar war. Ich wurde zu zwei weiteren Monaten | |
Haft verurteilt." | |
Rechtsanwalt Karsten Lüthke entdeckte schnell einen Fehler des Bundesamts | |
für Migration und Flüchtlinge. "Bei dem Übernahmeersuchen an Griechenland | |
wurde nicht auf die Haft hingewiesen und kein dringliches Übernahmeersuchen | |
gestellt. Das ist ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in | |
Haftsachen." Karsten Lüthke reichte gegen die Haftverlängerung eine | |
Beschwerde beim Landgericht Berlin ein. Mit Erfolg. Mitte Oktober wurde | |
Sadegh Amiri aus der Gefängnis entlassen, die verlängerte Haft auf | |
Beschluss des Landesgerichts Berlin als rechtswidrig befunden. "Ich bekam | |
eine Haftentschädigung für die zwei Wochen im Gefängnis. 250 Euro für zwei | |
Wochen Lebenszeit." | |
Geklaute Lebenszeit | |
Im Januar 2010 setzten die Behörden seine Rückschiebung nach Griechenland | |
aus, auch das Strafverfahren wegen der illegalen Einreise wurde einen Monat | |
später gegen Auflagen eingestellt. Seit über einem Jahr wartet Sadegh Amiri | |
nun auf eine Entscheidung der zuständigen Behörden. "Der Beschluss der | |
Bundesregierung war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung", sagt | |
Karsten Lüthke. | |
Sadegh Amiri fühlt sich weiterhin als Marionette. Er muss abwarten, was | |
andere für ihn entscheiden. Rechtsanwalt Karsten Lüthke ist hilft ihm beim | |
Kontakt mit den offiziellen Stellen. "Ich hoffe, mein Anwalt kann den | |
Vorgang beschleunigen", sagt Sadegh Amiri, "jetzt muss die Bearbeitung der | |
Anträge doch schnell gehen." Sein Anwalt glaubt nicht daran. "Tausende | |
Asylbewerber, die über Griechenland einreisten, warten auf die Bearbeitung | |
ihrer Fälle." Aktenberge haben sich aufgetürmt. "Schnelle Entscheidungen | |
sind da nicht zu erwarten." | |
Eine Arbeitsgenehmigung hat Sadegh Amiri nicht. In Kermanshah war Sadegh | |
Amiri ein angesehener Mann, hier ist er nur ein Aktenzeichen. "Ich habe | |
keine Kraft mehr. Ich will dieses Leben nicht mehr. Ich brauche eine | |
Aufgabe." Die Unsicherheit über die eigene Zukunft nagt an seiner Seele. | |
Zum ersten Mal wird seine Stimme lauter. "Die Ämter und Regierungen sollen | |
aufhören, mit uns zu spielen", sagt er. "Sie klauen mir meine Lebenszeit." | |
14 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Kristin Oeing | |
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