# taz.de -- Arbeitnehmerrechte in der EU: Firmen hebeln Mitbestimmung aus | |
> Immer mehr große Unternehmen entziehen ihren Angestellten | |
> Mitsprachemöglichkeiten in Aufsichtsräten. Dabei berufen sie sich auf | |
> europäisches Recht. | |
Bild: Bei H&M haben die Mitarbeiter nicht mehr viel zu melden. Dank des Europä… | |
BERLIN taz | Die Fluggesellschaft Air Berlin, die Drogeriemarktkette Müller | |
oder die Modekette H&M - immer mehr Unternehmen haben Beschäftigten in den | |
vergangenen Jahren in Deutschland die Möglichkeit zur Mitbestimmung in | |
Aufsichtsräten entzogen. Das zeigt eine neue Studie der | |
Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Sick und Lasse Pütz. Die Unternehmen | |
handeln nicht etwa illegal, sondern können sich auf europäisches Recht | |
stützen: Sie nutzen die europäische Rechtsprechungen zur | |
Niederlassungsfreiheit. | |
Nach Grundsatzentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs müssen | |
ausländische Unternehmen, die in Deutschland tätig werden, sich hierzulande | |
keine deutsche Rechtsform mehr geben, etwa eine Aktiengesellschaft (AG) | |
gründen oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). | |
Gleichzeitig können auch in Deutschland ansässige Unternehmen, die zugleich | |
im Ausland Geschäfte machen, eine ausländische Rechtsform wie | |
beispielsweise die Limited & Co. KG annehmen. Für diese gelten die | |
deutschen Regeln zur Mitbestimmung in Aufsichtsräten nicht. | |
"Die Folgen für die Arbeitnehmer sind gravierend", sagt Sick, Leiter des | |
Referats Wirtschaftsrecht II in der gewerkschaftsnahen | |
Hans-Böckler-Stiftung. Die dortigen Arbeitnehmer werden um ihre | |
Mitbestimmung gebracht. Diese ist in Unternehmen mit deutscher Rechtsform | |
so geregelt, dass Firmen, die mehr als 500 Mitarbeiter beschäftigen, einen | |
Aufsichtsrat bilden müssen, der zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertretern | |
besetzt ist. | |
In Unternehmen mit mehr als 2.000 Mitarbeitern haben die Beschäftigten | |
sogar Anspruch auf die Hälfte der Aufsichtsratssitze. Bisher ist nicht | |
vorgesehen, deutsche Mitbestimmungsregelungen auch für Aufsichtsräte | |
ausländischer Unternehmensformen anzuwenden. | |
Ohne Sitz im Aufsichtsrat sind den Beschäftigten aber weitreichende | |
Einblicke und Einflussmöglichkeiten auf die Geschäftspraxis der Firmen | |
entzogen. "Der Aufsichtsrat nickt nicht nur den Geschäftsbericht des | |
vergangenen Jahres ab. Es ist ein wichtiges Beratungsgremium für | |
Zukunftsfragen", sagt Sick. | |
Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten haben Einfluss auf die Kontrolle | |
der Geschäftsführung, sie gewinnen Einblick in umfassende Daten zur | |
wirtschaftlichen Lage des Unternehmens, und sie sitzen mit am Tisch, wenn | |
der Vorstand bestellt und sein Vertrag samt Vergütung ausgehandelt wird. | |
Bei großen, börsennotierten Unternehmen gibt es zudem Geschäfte, denen der | |
Aufsichtsrat erst zustimmen muss, beispielsweise wenn es um | |
Umstrukturierungen, hohe Kreditaufnahmen oder die Schließung von Werken | |
geht. Angelegenheiten, in denen die Meinung von Arbeitnehmervertretern | |
unbequem werden kann. Von Unternehmensspitzen wird dieser Einfluss selten | |
offen moniert. | |
Eine Ausnahme ist Joachim Hunold. Der Chef von Air Berlin sagte 2006 zum | |
Börsengang der Fluglinie und kurz vor ihrem Wechsel in eine ausländische | |
Rechtsform stolz: "Wir haben keinen Betriebsrat, keine Gewerkschaft, keine | |
Mitbestimmung. So können wir flexibler und ehrlicher miteinander umgehen." | |
Forscher Sick verweist auch auf die Modekette H&M, die sich ein neues | |
Unternehmensgewand gab, als dort Betriebsräte einen mitbestimmten | |
Aufsichtsrat durchsetzen wollten. | |
Sick und Pütz dokumentieren in ihrer Studie, dass seit 2006 in Deutschland | |
weitere 26 Unternehmen dazu übergegangen sind, eine ausländische | |
Rechtsformen zu nutzen und so die Mitbestimmung auszuhebeln. Insgesamt | |
beläuft sich die Anzahl auf 43. Das sieht zunächst wenig aus, doch darunter | |
sind etliche Firmen, die mehrere tausend, zum Teil bis zu 20.000 | |
Mitarbeiter beschäftigen. Die Zahl der mitbestimmungsfreien Unternehmen hat | |
sich dabei in weniger als fünf Jahren etwas mehr als verdoppelt. | |
"Es ist noch keine riesige Lücke, aber sie wächst", resümiert Sick. Er | |
plädiert dafür, per Gesetz deutsche Mitbestimmungsrichtlinien auf | |
Unternehmen mit ausländischer Rechtsform auszudehnen: "Das ist auch im | |
Rahmen des EU-Rechts möglich." Auch die Gewerkschaften fordern solch ein | |
"Erstreckungsgesetz". Die schwarz-gelbe Regierung hat das Thema bisher aber | |
nicht auf ihrer Agenda. | |
20 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
## TAGS | |
EuGH | |
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