# taz.de -- Kommentar Gaddafi: Wer schützt nun die Libyer? | |
> Der Erfolg des arabischen Frühlings entscheidet sich auf Libyens Straßen. | |
> Die Revolutionäre werden sich daran erinnern, wer an ihrer Seite stand | |
> und wer sich abwandte. | |
Gaddafi lässt massakrieren, die Welt ist ratlos. Angesichts der libyschen | |
Apokalypse erscheinen die Umstürze von Tunesien und Ägypten im Rückblick | |
als fröhliches Volksfest, obwohl auch sie jeweils einen hohen Blutzoll | |
forderten. Denn in der Stunde der Wahrheit schreckten Ben Ali und Husni | |
Mubarak doch noch vor äußerster Gewalt zurück. Der Tahrir-Platz in Kairo | |
wurde nicht, wie zunächst befürchtet, zum arabischen Tiananmen, wo Chinas | |
Staatsmacht im Juni 1989 Regimegegner mit Panzern überrollen ließ. | |
Dafür tritt nun der Libyer Gaddafi in die Fußstapfen Ceaucescus: Der | |
rumänische Diktator dachte im Dezember 1989 auch, die vorangegangen | |
Umstürze in anderen Ländern Osteuropas gingen ihn nichts an, und ging mit | |
brutaler Gewalt gegen einen Volksaufstand vor. Bekanntlich wurde Ceaucescu | |
wenig später gestürzt, verhaftet und erschossen. Gaddafi muss diesen Weg | |
nicht beschreiten. Aber nichts deutet derzeit darauf hin, dass er einen | |
anderen einschlägt. Sein jüngster bizarrer Videoauftritt mit Regenschirm | |
dürfte in die Geschichtsbücher eingehen, in das lange Kapitel denkwürdiger | |
Momente, in denen Autokraten die Kontrolle verlieren und es nicht wahrhaben | |
wollen. | |
Wer schützt nun die Libyer? Während sich in Tripolis Straßen die Leichen | |
stapeln, holen deutsche und internationale Großkonzerne ihre Mitarbeiter | |
zurück, europäische Staaten bringen Flugzeuge in Bereitschaft für eine | |
mögliche Evakuierungsaktion, die Türkei schickt Schiffe. Wehe, es versucht | |
ein Libyer, dort irgendwo einzusteigen. Man wird ihn zurückweisen. Und wenn | |
Libyer stattdessen selber in Boote steigen, um sich in Sicherheit zu | |
bringen, werden sie auf die EU-Patrouillen von Frontex stoßen. | |
Eine unrühmliche Rolle dabei spielt nicht nur die Berlusconi-Regierung | |
Italiens, das sich dieser Tage wieder einmal als geologische und politische | |
Fortsetzung Nordafrikas auf dem europäischen Kontinent gebärdet. Auch | |
Deutschland hat zwei Hubschrauber angeboten. Das Glaubwürdigkeitsproblem | |
Europas beim Umgang mit der arabischen Revolution wird jeden Tag größer. | |
"Wir können ja nicht zusehen, dass Menschen ermordet werden, dass | |
friedliche Demonstranten, die ihre Anliegen auf die Straße tragen, | |
erschossen werden, dass möglicherweise Militär aus dem Luftraum eingesetzt | |
wird, um Demonstrationen mit Gewalt zu unterdrücken", sagt Außenminister | |
Guido Westerwelle. Doch: Wir können. Wir tun es. Oder erwägt die | |
Bundesregierung jetzt etwa einen Militäreinsatz zur Rettung des libyschen | |
Volkes? | |
Dies ist keine akademische Frage. Libyens Vizebotschafter bei der UNO warnt | |
vor einem Genozid in seinem Heimatland und hat den UN-Sicherheitsrat | |
eingeschaltet. Ein Genozid zieht eine völkerrechtliche Verpflichtung zum | |
Eingreifen nach sich. In der internationalen Diplomatie gibt es dafür seit | |
einigen Jahren das Konzept der "Schutzverantwortung" (responsibility to | |
protect), wonach die Staatengemeinschaft in der Pflicht steht, Menschen vor | |
ihren Regierungen zu schützen. | |
Entwickelt wurde das in Reaktion auf die Verbrechen im sudanesischen | |
Darfur, die vom Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs als | |
Völkermord bezeichnet werden. Wenn eine internationale Schutzverantwortung | |
für die Menschen in Darfur besteht, gilt sie nicht auch für die Menschen im | |
Nachbarland Libyen? | |
Nun genießen die Menschen in Darfur bis heute keinen effektiven Schutz, | |
aber das liegt vor allem an der Blockadehaltung Russlands und Chinas im | |
UN-Sicherheitsrat und es wäre auch ein schlechter Grund, jetzt in Libyen | |
passiv zu bleiben. Der Erfolg des arabischen Frühlings entscheidet sich in | |
diesen Tagen auf Libyens Straßen. Die Revolutionäre werden sich daran | |
erinnern, wer an ihrer Seite stand und wer sich abwandte. Sie werden daran | |
ihre zukünftige Politik ausrichten, so wie man es bereits von Israel, | |
Südafrika oder Ruanda kennt. | |
Das freie Ägypten nimmt verletzte libysche Flüchtlinge auf; Europa hat vor | |
ihnen Angst. Die arabische Jugend fiebert mit den libyschen Revolutionären; | |
Europa hat vor ihnen Angst. Das Allermindeste wäre jetzt ein UN-Beschluss | |
zur Einschaltung des Internationalen Strafgerichtshofs, die Beschlagnahmung | |
von Gaddafis Besitz im Ausland und ein sofortiger Stopp des europäischen | |
Ölankaufs aus Libyen. Wer sich dazu nicht durchringen kann, bleibt Komplize | |
von Mördern. | |
22 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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