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# taz.de -- Politische Bürgerbeteiligung im Netz: Demokratie-Experimente online
> Mit Online-Plattformen versucht die Politik den "Wutbürger" wieder
> einzufangen. Doch die Beteiligungsplattformen sind noch im
> Experimentierstadium.
Bild: Weitgehend offline: Sitzung der Enquete-Kommission "Internet und digitale…
Gespannte Erwartung herrscht im Bonner Brückenforum, als am Samstag
Christian Wulff auf der Leinwand erscheint. "Ich möchte etwas tun für die
Zukunftsfähigkeit der Demokratie in Deutschland", erklärt der
Bundespräsident per Liveschaltung."
Obwohl die repräsentative Demokratie den Deutschen in den vergangenen sechs
Jahrzehnten gute Dienste geleistet habe, seien Defizite bemerkbar. Viele
Bürger fühlten sich nicht mehr in die politischen Entscheidungsprozesse
einbezogen. "Wir müssen daran arbeiten, dass aus Wutbürgern Mutbürger
werden", erklärt Wulff und erntet bei dem Bonner Publikum höfliche
Zustimmung.
Mehr als 200 Bürger sind an dem Tag in Bonn zusammengekommen, um am
[1][Bürger-Forum des Bundespräsidenten] teilzunehmen, das von der
Bertelsmann-Stiftung und von der Heinz-Nixdorf-Stiftung organisiert und
gefördert wird. 10.000 zufällig ausgesuchte Bürger sollen in 25 Städten und
Landkreisen auf einer Online-Plattform zusammenarbeiten, um ein
"BürgerProgramm" zu entwerfen, das der Politik in wesentlichen Bereichen
wie der Integrations- und Bildungspolitik Signale geben soll.
"Wenn sich einem die Gelegenheit bietet, muss man für die Demokratie
eintreten", erklärte Teilnehmerin Karin Pelzer. Als die Lehrerin den Anruf
mit der Anfrage bekam, sagte sie deshalb sofort zu. Zwar befürchte sie,
dass das Bürgerforum eine Alibi-Veranstaltung sein könnte, sie wollte dem
Konzept aber auch eine Chance geben.
Christopher Gernhardt hätte fast abgesagt: "Normalerweise lehne ich solche
Angebote per Telefon grundsätzlich ab". Doch wenige Tage vorher war ein
Kollege angerufen worden und hatte ihm von dem merkwürdigen Angebot
erzählt. Also erkundigte sich der Anwendungsentwickler und sagte zu, als er
selbst angerufen wurde. "Einen direkten Einfluss auf die Politik erwarte
ich nicht", so Gernhardt.
Dennoch will er in den kommenden sechs Wochen seinen Teil dazubeitragen, um
das "Bürgerprogramm zu erstellen, das Ende Mai in Bonn feierlich überreicht
werden soll. Was mit dem Text passiert, ist wohl weder für die Teilnehmer,
noch für die Organisatoren vorrangig. Der Bundespräsident versucht, die
Lust an der politischen Teilhabe und dem ehrenamtlichen Engagement zu
wecken, will den Teilnehmern das Gefühl vermitteln, gehört zu werden. Die
Teilnehmer wiederum freuen sich auf politische Diskussionen.
Offenbar war nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung bereit, sich darauf
einzulassen. 10.000 Telefonate mussten die Organisatoren führen, um die 400
Freiwilligen rund um Bonn zu finden. Zur Einführungsveranstaltung kommt
etwas mehr als die Hälfte.
## Der "18. Sachverständige"
Über mangelndes Interesse kann sich ein anderes Demokratie-Experiment
unterdessen nicht beklagen. Gut zwei Wochen ist die
[2][Online-Beteiligungsplattform] der [3][Enquete-Kommission] "Internet und
digitale Gesellschaft" online und hat schon über 1.100 Mitwirkende gefunden
– ohne Telefonate, ohne Werbung und ohne die Zugkraft eines
Bundespräsidenten.
Bürgerbeteiligung war schon von Beginn an Thema der Enquete-Kommission. 17
Sachverständige sitzen im Sitzungssaal, wenn die Kommission tagt, der "18.
Sachverständige" soll aus dem Internet kommen. Sitzungen wurden im Internet
gestreamt, das Enquete-Sekretariat twitterte, ein Forum stand für
interessierte Bürger bereit. Das ist bedeutend mehr als die meisten anderen
Bundestagsausschüsse zu bieten hatten – doch die Internet-Community war
nicht zufrieden.
Mit "Adhocracy" stand zwar eine kostenlose Software bereit, die wie
geschaffen zu sein schien für die Enquete-Kommission. Doch die Einführung
auf den Bundestagsservern scheiterte fast ein Jahr nach Einberufung der
Kommission zunächst am Votum des Ältestenrats des Bundestags: die
Installation sei zu teuer für das erwartbare Ergebnis. "Der Prozess ließ
einen teilweise an der Politik verzweifeln - hätte das Parlament Adhocracy
ernsthaft gewollt, wäre es schneller und besser gegangen", sagt der
Webentwickler Christian Scholz, der sich von Beginn an im Forum engagiert
hatte.
Hier stieß Scholz aber immer wieder an die Grenzen. Die Diskussionen traten
auf der Stelle, zu viele Papiere der Arbeitsgruppen wurden nicht
veröffentlicht. Erst als der Chaos Computer Club dem Bundestag öffentlich
angeboten hatte, die Installation der Software zu finanzieren, kam Bewegung
in die Sache, die Software wurde installliert – allerdings nicht auf
Servern des Bundestags.
Jimmy Schulz (FDP), Bundestagsabgeordneter und Mitglied der
Enquete-Kommission, ist begeistert von dem neuen Werkzeug parlamentarischer
Mitarbeit: "Adhocracy bietet eine vollkommen neue Chance des Dialogs
zwischen Bürger und Parlament", erklärt Schulz. Statt seine Meinungen nur
ungeordnet ins Forum zu stellen, können die Bürger auf der Plattform
Anträge stellen, Verbesserungsvorschläge machen oder für bestimmte
Vorschläge stimmen. "Mit dem richtigen Werkzeug stößt man auf die richtige
Resonanz", sagt Schulz. "Man kann nicht mehr wie früher einen Bebauungsplan
im Rathaus von 9 bis 12 Uhr auslegen."
Über das Internet haben die Bürger neue Möglichkeiten, die sie auch nutzen
werden. Ob die Bürgervorschläge taugen, entscheiden die
Ausschussmitglieder. Dennoch: Ob sich Adhocracy in der Praxis bewähren und
den Abgeordneten bei der Aufarbeitung komplexer Themen wie Netzneutralität
oder Rechtssicherheit im elektronischen Handel helfen kann, ist alles
andere als sicher. Noch sind die Teilnehmer etwas unsicher, was und in
welcher Form sie zu dem Abschlussbericht beitragen können.
"Es ist ein Experiment", sagt Schulz. So könnte die Plattform von
Spaßgruppen oder Lobbyisten einfach unterwandert werden, die sperrigen
Parlamentsprozesse könnten potenzielle Mitarbeiter abschrecken. Für
Christian Scholz ist zunächst wichtig, dass mit dem neuen Werkzeug
Transparenz hergestellt wurde. Das Sekretariat der Enquete-Kommission ist
derzeit dabei, alle Papiere online zu stellen. "So bekommt der Bürger die
Möglichkeit auf Augenhöhe mitzudiskutieren", sagt der Webentwickler. Wie
die Bürger diese Möglichkeit nutzen, wird sich in den kommenden Monaten
zeigen.
18 Mar 2011
## LINKS
[1] http://www.buergerforum2011.de/
[2] http://www.enquetebeteiligung.de/
[3] http://www.bundestag.de/internetenquete/
## AUTOREN
Torsten Kleinz
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