# taz.de -- Buchmesse in Leipzig: Eine Frage der Haltungen | |
> Das Große spiegelt sich im Kleinen und politische Geschehnisse machen | |
> auch vor der Kultur nicht halt: Die Leipziger Buchmesse war keine Messe | |
> wie jede andere. | |
Bild: Durch vieles andere abgelenkt: Besucher der Leipziger Buchmesse. | |
LEIPZIG taz | "Die Freude ist notwendig, um anderen zu helfen", sagt Alfred | |
Grosser. Er stellte in Leipzig seine Autobiografie "Die Freude und der Tod. | |
Eine Lebensbilanz" vor. Es sind ermutigende Worte eines 1925 geborenen | |
Mannes, dessen Positionen man nicht in allen Punkten teilen muss, um von | |
seiner Haltung zu lernen. Grosser bezeichnet sich als "intellektuell | |
pessimistisch, genetisch aber glücklich". | |
Es ist eine Haltung, die es jedenfalls leichter macht, über die | |
Geschehnisse in Nordafrika oder Japan zu diskutieren, die auch auf der | |
Buchmesse sehr präsent waren. Grosser, Soziologe und Publizist, lebt in | |
Frankreich, wo Staatspräsident Sarkozy ja nicht nur mit großer Vernunft und | |
Entschlossenheit gerade dazu beitrug, dass der Westen die Rebellen in | |
Libyen endlich militärisch unterstützt. | |
Nein, Sarkozy hat sich leider nicht nur zu Libyen geäußert, sondern mal | |
wieder auch zum Atom. Er meint, ein Fukushima würde in Frankreich nicht | |
passieren, die französischen Atommeiler würden sogar einen Flugzeugabsturz | |
ohne Kernschmelze überstehen. Nun dürfe man ob solcher Aussagen, so | |
Grosser, im Angesicht der Ereignisse nicht verzweifeln. Er warnte in | |
Leipzig vor einer Neuauflage des 70er-Jahre-Katastrophen- und | |
Untergangsdenkens, die noch nie sehr hilfreich waren. | |
## Huldvolle Worte hier, Mozart dort | |
Wie sehr die Messe dieses Jahr unter dem Eindruck der sich stündlich | |
verändernden Nachrichtenlage aus Japan und Libyen stand, wurde gleich zu | |
Beginn bei der Eröffnungsfeier im Gewandhaus deutlich. Der Leipziger | |
Oberbürgermeister las aus "Störfall" von Christa Wolf, 1987 nach der | |
Atomkatastrophe im sowjetischen Tschernobyl erschienen. | |
Doch werden bei solchen Betriebsfeiern auch schnell die Widersprüche | |
unserer Zeit sichtbar. Huldvolle Worte hier, Mozart dort, unten im Foyer | |
ein Catering, das sehr viel über die emotionale Abgestumpfheit und | |
Kulturlosigkeit des Betriebs sagt, dank derer uns die großartigen | |
Leistungsträger und Entscheider in Wirtschafts- und Konsummodelle führen, | |
die im Großen - Fukushima - zur Menschen überdauernden Vergiftung führen. | |
Im Kleinen, um bei Buffet, Kultur, Catering und Kernschmelze zu bleiben, | |
drückt sich die zivilisatorische Abgestumpftheit unserer Systeme zum | |
Beispiel an den Hunderten für die anwesenden Kulturfreunde aufgebahrten | |
Hühnerschenkeln aus, die im Gewandhaus nebst Currywürsten aus der | |
Gulaschkanone gereicht wurden. Man muss nicht gleich einer Neuauflage des | |
moralinsauren, freudlosen, antikonsumistischen Lebensweltterror der 70er | |
Jahre das Wort reden. Doch niemand kann mir erzählen, dass die Dinge nicht | |
zusammengehören. Hühnerbeinmassaker und Mozart - der Wege nach Fukushima | |
sind viele. | |
Es war einfach keine Messe wie jede andere. Sondern eine, wo jeder halbwegs | |
empathiefähige Mensch nicht ignorieren konnte, was zeitgleich zu den | |
Lesungen in Leipzig auf der Welt passierte. Dass die Tokioter Feuerwehr | |
ausgerückt war, um mit Wasserwerfern die Kernschmelze zu bekämpfen, und wo | |
zeitgleich dazu Oberst Gaddafi vor den Augen der Weltöffentlichkeit sich | |
anschickte, auch noch den letzten libyschen Rebell zu massakrieren. | |
In den abendlichen Gesprächen unter Verlegern, Schriftstellern, Autoren | |
waren dies die wiederkehrenden Themen. Auch Liberale und Konservative | |
verstehen ihre eigene Regierung nicht mehr. Erst trotz Tschernobyl für Atom | |
und AKW-Laufzeitverlängerung. Nun nach Fukushima und vor den kommenden | |
Landtagswahlen das Gegenteil. CDU-Politiker reden jetzt darüber, warum das | |
Atom doch nicht zum Wertekonsens der Partei gehören soll. Wer soll das | |
verstehen? | |
## "Die Panikmacher" | |
Verwirrender als die Kanzlerin und ihre Parteifreunde ist nur noch der Chef | |
der Liberalen-Partei. Westerwelle hat es geschafft, dass sich Deutschland | |
in Menschenrechtsfragen China und Russland angenähert hat. Westerwelle oder | |
Merkel hätten tatsächlich einfach weiter dabei zu geschaut, wie | |
Staatsterrorist Gaddafi mit schweren Gerät seine Bevölkerung weiter | |
umbringt. Gleichzeitig haben sie nicht einmal in Ansätzen darüber | |
nachgedacht, wie man die Leute in Benghasi sonst hätte retten können - | |
evakuieren, rausholen, das nackte Leben retten, Asyl - keine deutsche | |
Position. | |
Patrick Bahners hat in seinem Buch "Die Panikmacher" am Falle Sarrazin | |
gezeigt, was für ein unverantwortlicher Wendehals Westerwelle ist. Zunächst | |
hielt Westerwelle das Sarrazin-Buch im Herbst für ein rassistisches | |
Machwerk. Nachdem Sarrazins Siegeszug mit Hunderttausenden verkauften | |
Büchern begann, schloss sich Westerwelle ihm schnell an und gab kund, dass | |
Deutschland ein christlich-jüdisches und kein islamisches Land sei. Man | |
wäre ohne ihn gar nicht darauf gekommen. | |
Ein Zeichen von Demokratie ist es sicherlich, dass man seine Meinung ändert | |
und vor allem als Politiker auch veränderte Haltungen der Bevölkerung | |
wahrnimmt. Doch das heißt nicht, dass sich das Wahlvolk von Leuten wie | |
Westerwelle, Merkel, Guttenberg oder Mappus verarschen lässt. Wer nur nicht | |
klaut, solange er fürchtet, dabei erwischt zu werden, dem sollte man besser | |
seinen Laden nicht anvertrauen. | |
Doch wie Grosser sagt, man sollte sich bei alldem auf keinen Fall die Laune | |
verderben lassen. Eine gute Meldung aus dem Buchhandel: In der Schweiz | |
wurde die Buchpreisbindung wieder eingeführt. | |
20 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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