# taz.de -- Trinkwasser immer stärker belastet: Die Brennstäbe schmelzen weit… | |
> Das Trinkwasser in der Hauptstadt und die Böden im Umkreis von Fukushima | |
> werden immer stärker radioaktiv belastet. Am Kraftwerk selbst bleibt die | |
> Lage gefährlich. | |
Bild: Keine Veränderung: Rauch am Reaktor 3, Fukushima Daiichi. | |
Tokios Kleinkinder sollen kein Leitungswasser mehr trinken, Babynahrung | |
soll nur noch mit Flaschenwasser zubereitet werden. Das sagte der | |
Regierungschef der Hauptstadtregion, Shintaro Ishihara am | |
Mittwochnachmittag, nachdem im Trinkwasser erhöhte Werte radioaktiven Jods | |
gemessen wurden. Damit erreicht der Reaktorunfall von Fukushima jetzt die | |
Hauptstadt und ihre Bevölkerung. | |
"Das radioaktive Jod im Wasser kann auf Dauer bei Kindern zu | |
Schilddrüsenkrebs führen", sagt Strahlenbiologe Professor Michael Atkinson | |
vom Helmholtz Zentrum in München. Waschen und Kochen mit dem Wasser sei | |
kein Problem, aber beim Duschen könne Jod als Wasserdampf eingeatmet | |
werden. Bisher seien die Werte aber zu gering für eine akute Gefahr. | |
"Für Erwachsene ist das Wasser derzeit nicht gefährlich", erklärten auch | |
die japanischen Behörden. Sie forderten die Menschen auf, sich keine | |
Vorräte an Wasserflaschen zuzulegen. Dennoch war in vielen Supermärkten | |
Wasser schnell ausverkauft. | |
Das Wasser für die 35-Millionen-Metropole Tokio kommt fast ausschließlich | |
aus Flüssen, Seen und Talsperren aus dem Nordwesten der Stadt. Auf der | |
Wasseroberfläche lagere sich das radioaktive Jod aus der Luft ab und werde | |
bei Regen zusätzlich ausgewaschen, sagte Andreas Neft vom Institut für | |
Siedlungswasserbau in Stuttgart. Bis Radioaktivität das Grundwasser | |
erreiche, dauere es aber mehrere Wochen, meint Bodo Weigert vom | |
Kompetenzzentrum Wasser in Berlin. "Zusätzlich sind die | |
Trinkwasser-Reinigungsanlagen in Tokio offen", sagt Strahlenbiologe | |
Atkinson. Auch das wiederaufbereitete Wasser ist also dem radioaktiven Jod | |
aus der Luft ausgesetzt. | |
## Spaltprodukt Cäsium: 1.600-fach über Grenzwert | |
Auch der Boden wird zunehmend belastet: In Iitate, 40 Kilometer | |
nordwestlich von Fukushima I, belegen Messungen eine punktuell extrem hohe | |
Belastung. Wissenschaftler fanden nach Angaben des TV-Senders NHK dort etwa | |
das Spaltprodukt Cäsium mit einem Wert von 163.000 Becquerel, das | |
1.600-fache des japanischen Grenzwerts. Da die Halbwertszeit von Cäsium 30 | |
Jahre beträgt, ist der Boden dort lange belastet. | |
Messdaten des US-Energieministeriums belegen diese Abgasfahne aus | |
Fukushima: Nach etwa 40 Messflügen präsentierte die Behörde gestern ihre | |
"niedrigen Werte", die auf ein Jahr hochgerechnet aber immer noch bis zu | |
1.000 Millisievert erreichen: das Zweieinhalbfache der Lebensdosis eines | |
AKW-Arbeiters. | |
Wie gefährlich die Strahlenbelastung wird, hängt auch davon ab, wie lange | |
sie anhält. Noch ist nicht absehbar, wann sich die Strahlung aus dem AKW | |
Fukushima verringern könnte. Die Meldungen gestern ließen eher wieder auf | |
eine Verschlechterung der Lage schließen. So wurden an Block 2 die Arbeiten | |
eingestellt und das Personal evakuiert, weil die Strahlenbelastung 500 | |
Millisievert pro Stunde erreichte - doppelt so viel, wie ein Arbeiter in | |
Fukushima insgesamt abbekommen darf. | |
## Brennstäbe in allen drei Reaktoren liegen frei | |
Nach den Zahlen des japanischen Atomindustrieverbands JAIF liegen auch | |
wieder die Brennstäbe in allen drei Reaktoren teilweise frei, zum Teil bis | |
zu 2,35 Meter (Reaktor 3), und schmelzen weiter. Dies sei der höchste | |
bekannte Wert seit Beginn der Krise, hieß es. | |
Auch gestern trieb wieder schwarzer Rauch nach einem Brand über das | |
Gelände: Ein Hinweis darauf, dass das Areal so heiß ist, dass sich etwa | |
Kunststoffe selbst entzünden könnten. Bereits am Dienstag hatte offenbar | |
nach Informationen der japanischen Atomaufsicht Nisa im Abklingbecken an | |
Reaktor 2 das Wasser wieder den Siedepunkt erreicht,die Feuerwehr musste | |
das Becken beregnen. Noch eine Hiobsbotschaft: Die fest installierten | |
Pumpen an Block 2 sind nach Meinung von Tepco so beschädigt, dass sie zur | |
Kühlung nicht mehr zu gebrauchen sind. | |
Die Erfolgsmeldungen – das Licht im Kontrollraum von Block 2 brennt wieder | |
– wurde von anderen Nachrichten überschattet. So versicherte zwar der | |
Sicherheitsbeauftragte der internationalen Atombehörde IAEA, James Lyons, | |
es gebe "keine großen Löcher" in den Sicherheitsbehältern der Reaktoren und | |
es trete "keine große Menge Radioaktivität aus". Gleichzeitig mahnte er, | |
seine Behörde habe in den letzten Tagen keine Informationen über den | |
Zustand der Reaktoren 1 und 3 bekommen. "Keine Nachrichten bedeuten nicht | |
immer gute Nachrichten", sagte Lyons. | |
## Keine Nachrichten zu Reaktor 1 und 3 | |
Das können die Reaktorwächter der französischen IRSN bestätigen. In ihrem | |
aktuellen Situationsbericht warnen sie, dass Reaktor 3 unkontrolliert und | |
stetig ungefiltert Radioaktivität an die Umwelt abgibt. Der strahlende | |
Dampf aus dem Reaktor entweiche aus dem Schutzbehälter, der nicht mehr | |
luftdicht sei. Reaktor 3 gilt als besonders gefährlich, weil dort | |
MOX-Elemente eingesetzt sind, die auch das Supergift Plutonium enthalten. | |
Der Betreiber Tepco reagiert auf die Zustände in Fukushima, indem er die | |
meldepflichtige Strahlendosis anhebt. Alle Werte über 500 Mikrosievert pro | |
Stunde würden von jetzt ab "als ein Vorfall gewertet" und nicht mehr | |
gesondert gemeldet. Aufs Jahr hochgerechnet, ist das immerhin eine Dosis | |
von über 4.300 Millisievert - das Zehnfache der Dosis, die ein | |
AKW-Angestellter in seinem gesamten Berufsleben abbekommen darf. | |
23 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
N. M. Bust-Bartels | |
B. Pötter | |
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