# taz.de -- AKW Fukushima: Ruine mit Restrisiko | |
> Das Leck im AKW-Abfluss von Fukushima ist dicht. Aber es drohen | |
> Explosionen und Kettenreaktionen – und bis zu 200.000 zusätzliche | |
> Krebserkrankungen. | |
Bild: Demutsgeste der Tepco-Mitarbeiter gegenüber hohen Vertretern des Fischer… | |
BERLIN taz | Eine gute Nachricht aus Fukushima klingt so: Am Mittwoch haben | |
Arbeiter den Riss gestopft, aus dem in den letzten Tagen hochradioaktives | |
Wasser in das Meer geströmt war. Mit der Injektion von 1.500 Liter | |
Natriumsilikat oder "Flüssigglas" dichteten sie das Leck im | |
Abwasserschacht, von wo das belastete Wasser in die Bucht vor dem AKW | |
gelangt war. Die Rettungsmaßnahmen waren offenbar erfolgreich: Statt um das | |
4.000fache wurden die Grenzwerte für Radioaktivität vor der Küste danach | |
nur noch um das 280fache überschritten. | |
Die alltäglichen schlechten Nachrichten klingen so: Reaktor 1 der Atomruine | |
steht offenbar wieder kurz vor einer Explosion; es mehren sich die | |
Anzeichen, dass in diesem Block immer wieder unkontrollierte | |
Kettenreaktionen stattfinden; eine unabhängige Abschätzung der | |
Gesundheitsfolgen spricht von bis zu 200.000 zusätzlichen Krebserkrankungen | |
als Folge des Atomunfalls. | |
Akut sorgen sich die Tepco-Techniker über die Zunahme der | |
Wasserstoffkonzentration in Block 1, aber durchaus auch in den beiden | |
anderen Reaktoren. Je mehr Wasserstoff durch die Hitze entsteht, desto | |
höher steigt die Explosionsgefahr - wie bei den Verpuffungen, die am Beginn | |
der Katastrophe die Dächer der Reaktorhäuser weggesprengt haben. Als | |
Gegenmaßnahme wollten die Techniker in der Nacht zum Donnerstag beginnen, | |
Stickstoffgas in die Reaktoren zu leiten, um den Wasserstoff zu | |
entschärfen. | |
So einfach lässt sich das zweite Problem sicherlich nicht lösen. Der | |
US-Experte für Atomsicherheit Arnold Gundersen von "Fairewinds Associates" | |
warnt eindringlich davor, dass sich in Reaktorblock 1 mit großer | |
Wahrscheinlichkeit immer wieder unkontrollierte Kettenreaktionen ereignen. | |
Die Indizien dafür: Tepco hat angegeben, in etwa 1,5 Kilometer Entfernung | |
vom AKW seien ungewöhnliche hohe Dosen von Neutronen gefunden worden, die | |
auf diese Weise eigentlich nur bei einer Kettenreaktion auftreten. Es gebe | |
Berichte über Chlor-38, Tellurium-129 und Jod-131 in solchen | |
Konzentrationen, die die These der "Rekritikalität" stützten, die bereits | |
seit einigen Tagen unter Experten diskutiert wird. | |
Die Theorie dazu: Sobald die Steuerstäbe in den Brennelementen freiliegen, | |
beginnen sie zu schmelzen. Kommt dann das Kühlwasser an sie heran, beginnt | |
eine Kettenreaktion. Sobald das Wasser verdampft, stoppt die Reaktion, aber | |
die Stäbe laufen wieder heiß und müssen erneut mit Wasser gekühlt werden - | |
ein Teufelkreis in einem Reaktor, der sich selbständig an- und wieder | |
ausschaltet. "Das klingt nach den vorliegenden Informationen durchaus | |
plausibel", heißt es auch von der deutschen "Gesellschaft für | |
Reaktorsicherheit" (GRS). | |
## | |
## Daten aus der Tschernobyl-Forschung | |
Gundersen rät dazu, dem Wasser Bor beizumischen, das die Reaktion | |
unterbricht. Das haben die Helfer am Beginn der Katastrophe getan, doch | |
inzwischen ist davon nicht mehr die Rede. Der Experte warnt vor einer | |
Kettenreaktion ohne Kontrolle: "Der Reaktor erzeugt dann wieder mehr Hitze | |
und mehr Strahlung. Außerdem entsteht Neutronenstrahlung, von deren Gefahr | |
die Arbeiter möglicherweise gar nichts wissen." Viele Experten fürchten, | |
dass die Arbeiter an den AKW mit den Dosimetern an ihrer Schutzkleidung die | |
umständlich zu messende Neutronenstrahlung gar nicht erfassen. | |
Ähnlich unklar ist die Abschätzung der Zahl der Unglücksopfer. Die | |
Expertengruppe "European Committee on Radiation Risk" (ECRR) hat errechnet, | |
dass unter den 3 Millionen Menschen im Umkreis von 100 Kilometern in den | |
nächsten zehn Jahren etwa 200.000 zusätzliche Fälle von Krebserkrankungen | |
auftreten könnten. Diese Angabe liegt etwa hundertmal so hoch wie die | |
Zahlen der herkömmlichen Risikobewertung nach dem "ICRP-Modell", das nur | |
2.838 Erkrankungen voraussieht. | |
Das ECRR-Modell bewertet auch Strahlenrisiken aus Nahrung und Atmung und | |
stützt sich auf Daten aus der Tschernobyl-Forschung. Die ECRR-Gruppe wirft | |
der UN-Atombehörde IAEO vor, sie habe in ihren Berichten "das Niveau der | |
radioaktiven Belastung signifikant unterbewertet". | |
6 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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