# taz.de -- Debatte Völkerrecht: Das Unglück der anderen | |
> Die Kritiker der UN-Resolution 1973 idealisieren die Souveränität der | |
> Staaten. Sie bedienen eine Allmachtsfantasie, die auf Immanuel Kant | |
> zurückgeht. | |
Bild: Souveränität sieht anders aus: libysche Wüste. | |
Die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates, mit der eine westliche | |
Staatenkoalition ermächtigt worden ist, sich in den Bürgerkrieg in Libyen | |
gewaltsam einzumischen, stellt einen zentralen Grundsatz des Völkerrechts | |
in Frage: die Staatensouveränität. | |
Aber der Hinweis auf ein angebliches völkerrechtliches Interventionsverbot | |
im Falle eines Bürgerkrieges ist Ausdruck eines veralteten dogmatischen | |
Rechtsverständnisses, das die Mehrheit im UN-Sicherheitsrat zum Glück nun | |
endlich aufgegeben hat. Welche machtpolitischen Erwägungen auch immer | |
hinter ihrem Beschluss stehen mögen - im Ergebnis haben die Befürworter | |
einen Paradigmenwechsel im humanitären Völkerrecht vollzogen, der schon | |
seit Langem überfällig gewesen ist. | |
Das Bild einer Weltgemeinschaft, in der jeder Staat den anderen achtet, ist | |
schön. Aber seine Schönheit gewinnt es vor allem durch seine Einfachheit, | |
manche würden sagen: durch seine Übersimplifizierung. | |
Natürlich ist es richtig, alle Optionen für die friedliche Lösung | |
politischer Konflikte auszuschöpfen. Natürlich gibt es berechtigte Zweifel | |
daran, dass dies im Falle Libyens geschehen ist. Und natürlich haben auch | |
diejenigen Recht, die darauf hinweisen, es sei bigott, Gaddafi mit Raketen | |
anzugreifen, während die Handels- und Finanzströme mit dem Westen weiter | |
fließen und frisches Geld in die Kassen des Diktators spülen. | |
Richtig ist aber auch, dass wir in einer globalisierten Welt das | |
Gewaltverbot zwischen den Staaten nicht mehr mit dem völkerrechtlichen | |
Prinzip der Staatensouveränität begründen können. Die Souveränität der | |
Staaten kann heute nicht mehr die Bedeutung haben, die es noch in der | |
Rechtsphilosophie zu Zeiten von Immanuel Kants hatte. | |
## Konformität statt Moralität | |
Für Kant, dessen Philosophie bis heute die grundlegenden Strukturen | |
westlicher Rechtsordnungen und ihres freiheitlichen Verständnisses prägt, | |
entsteht der Staat nach dem Vorbild der Person. Die Person soll sich dem | |
moralischen Gesetz entsprechend verhalten, aber das Recht darf sie dazu | |
nicht zwingen. Nach dem allgemeinen Rechtsgesetz kann ein jeder Bürger von | |
seinem Mitbürger nur äußerliche Konformität, aber keine innerliche | |
Moralität verlangen. | |
So wie die Menschen voneinander nur äußerliches Wohlverhalten verlangen | |
können, so auch die Staaten: Solange sie die Souveränität der anderen | |
Staaten achten, gehen die inneren politischen Verhältnisse grundsätzlich | |
keinen anderen Staat etwas an. | |
Innenpolitik ist das völkerrechtliche Korrelat zur Moral. Beides soll in | |
Übereinstimmung mit verallgemeinerungsfähigen Maximen stehen, aber ihre | |
Verletzung geht in der Kantischen Rechtslehre nur den einzelnen Menschen | |
beziehungsweise den einzelnen Staat etwas an. Gewalt gegen einen anderen | |
Staat kann demnach, wie Gewalt gegen einen anderen Menschen, nur als | |
Notwehr erlaubt sein, denn diese ist als Negation des Rechtsbruchs selbst | |
Ausdruck des Rechts. | |
Richtet sich die Gewalt eines Regimes hingegen bloß nach innen, so hat sich | |
keiner einzumischen. Das Unglück der anderen soll uns seit der Aufklärung | |
von Rechts wegen nicht mehr interessieren. | |
## Ohne Personen kein Staat | |
Man merkt auf den ersten Blick, wie sehr Kants Vergleich zwischen Person | |
und Staat hinkt: Während Personen, real existierende Menschen aus Fleisch | |
und Blut, in ihrer Autonomie schutzbedürftig sind, ist der Staat eine | |
einzige Abstraktion. Er kann überhaupt nur deshalb bestehen, weil er von | |
menschlichen Personen anerkannt wird. Ohne Personen gibt es keinen Staat, | |
aber ohne Staat gibt es durchaus Personen. | |
Die Staatensouveränität kann deshalb als solche nicht zur Begründung eines | |
militärischen Interventionsverbotes herangezogen werden. Das mit ihr | |
verbundene Gewaltverbot ist als Grundnorm des Völkerrechts deshalb noch | |
lange nicht hinfällig. Militärische Gewalt schadet bekanntlich Menschen, | |
nicht Staaten. Aber das muss nicht immer so sein. Es gibt Fälle, in denen | |
nur durch den Einsatz von Waffen Menschen in existenzieller Not die | |
notwendige Hilfe zuteilwerden kann. | |
Ob im Einzelfall die idealistische Abstraktion des Staates sogar mit Gewalt | |
gebrochen werden muss, ist schlicht eine Frage der Erforderlichkeit. Das | |
heißt, Gewalt darf immer nur das letzte unter den geeigneten Mitteln sein. | |
Diplomatische und finanzielle Bemühungen haben unbedingten Vorrang, und | |
Gewalt kann nur angewandt werden, wenn eine kritische | |
Kosten-Nutzen-Prognose ihres Einsatzes ausnahmsweise zu einem positiven | |
Ergebnis führt. | |
Menschen, die an ihren grundlegenden Menschenrechten durch Repressionen | |
innerhalb ihres Staates gehindert werden, haben ein Recht auf jede | |
erforderliche Unterstützung der menschlichen Gemeinschaft. Persönliche | |
Beziehungen, die heute immer seltener im Einklang mit Staatsgrenzen stehen, | |
bilden das Fundament des sozialen und rechtlichen Zusammenlebens. | |
Die Mitglieder der vom Feudalismus befreiten Gesellschaften haben deshalb | |
heute die rechtliche, nicht nur die moralische, Pflicht, ihren Brüdern und | |
Schwestern in Not zur Seite zu stehen. Staatsgrenzen sind Grenzen im | |
Denken, nicht in der von Menschen konstruierten sozialen Ordnung. Sie sind | |
ein schlechtes Argument für die Verweigerung von Hilfe aus egoistischen | |
Gründen. | |
## Prinzipienreiterei statt Hilfe | |
Bei schweren Menschenrechtsverletzungen erkennen viele Völkerrechtler | |
bereits eine Ausnahme vom Gewaltverbot zwischen den Staaten an. Aber | |
unerträglich sind Menschenrechtsverletzungen nicht erst bei Völkermord. | |
Bereits die Verletzung zentraler menschenrechtlicher Garantien in | |
Einzelfällen sollte ein Interventionsgebot begründen können. | |
Natürlich wird die adäquate Reaktion in einem solchen Fall normalerweise | |
keine militärische Intervention sein. Aber als letzte Möglichkeit kann | |
niemand, dem es um die Verhinderung von Leid und nicht um | |
Prinzipienreiterei geht, Gewalt ausschließen. In einer Welt, in der | |
Menschen und nicht Staaten leiden, sollte die Staatensouveränität als | |
verblassendes Abbild nationalstaatlicher Allmachtsfantasien in Zukunft | |
keine Rolle mehr spielen. | |
8 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Philip von der Meden | |
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