# taz.de -- Debatte Völkerrecht: Die Büchse der Pandora | |
> Das UN-Verfahren zwingt zu einem Minimalkonsens. Forderungen nach | |
> Bodentruppen in Libyen oder Bewaffnung der Rebellen ignorieren die | |
> Institutionen des Völkerrechts. | |
Wie aus dem Gebot, die Menschenrechte zu schützen, im Nullkommanichts ein | |
Weltkriegsprogramm werden kann, [1][zeigt Philip von der Meden]. Letztlich | |
fordert der Autor nichts anderes als die Abschaffung der | |
Staatensouveränität. Die internationale Gemeinschaft müsse bei der | |
Verletzung zentraler Menschenrechte intervenieren. | |
Als Gegner einer verantwortungsvollen Menschenrechtspolitik wird Immanuel | |
Kant ausgemacht, dessen künstlicher Begriff des Staates als Rechtsperson | |
den globalen Defätismus befördert habe: "Das Unglück der anderen soll uns | |
seit der Aufklärung von Rechts wegen nicht mehr interessieren." | |
Nun kann man Kants Rechtspazifismus vieles vorwerfen, aber eines sicher | |
nicht: Kant opfert die Menschenrechte gerade nicht auf dem Altar der | |
Staatensouveränität. Sein berühmter Satz in der Friedensschrift, "dass die | |
Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird", ist | |
Ausdruck einer globalen Solidarität, die ihre Aufgabe im Schutz der | |
Menschenrechte sieht. Kant zerschlägt geradezu den Panzer nationaler | |
Souveränität, seine Waffe ist dabei das Schwert des Weltrechts. | |
## Einen Bypass zur UNO legen | |
Anders als jene Verfechter der Menschenrechte, die heute dafür streiten, | |
dass man diese notfalls auch ohne UN-Mandat und mit militärischer Gewalt | |
durchsetzen müsse, insistierte Kant einst zu Recht darauf, dass das Militär | |
ungeeignet sei, einen globalen Friedenszustand zu befördern. | |
Stattdessen müsse man die Weltgesellschaft in einen "rechtlichen Zustand" | |
überführen, in dem kriegerische Interventionen auch dann verboten bleiben, | |
wenn die souveränen (sic!) Staaten, die die Chronisten der Macht als | |
Imperien zelebrieren, ihr militärisches Potenzial zum Einsatz bringen | |
möchten. | |
Wenn man diese pazifistische Grundüberzeugung und das geltende Gewaltverbot | |
zwischen den Staaten nun gegen den Schutz von Menschenrechten ausspielt, | |
lässt sich damit fast jede unilaterale Gewalt rechtfertigen. Das aber | |
öffnet die Büchse der Pandora und legt einen folgenreichen Bypass zu dem | |
Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen. | |
Die UN sind für vieles zu kritisieren. Die Rechtskontrolle durch den | |
Internationalen Gerichtshof ist unzureichend. Die Aufgabenteilung in den | |
Vereinten Nationen ist undemokratisch, die Mitentscheidungsrechte der | |
Generalversammlung und der transnationalen Zivilgesellschaft sind viel zu | |
gering. Zu Recht sprechen Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler deshalb | |
von einem partialabsolutistischen System. | |
## Was Resolution 1973 verlangt | |
Die Verteidigung der Menschenrechte kann freilich nicht bis zum | |
Sankt-Nimmerleins-Tag einer UN-Reform warten. Dass in Libyen gehandelt | |
werden muss, ist offenkundig. Die sozioökonomische Situation muss | |
verbessert, Zukunftsperspektiven müssen geschaffen werden. Aber es muss | |
eben auch sichergestellt werden, dass diese Maßnahmen in einem Umfeld | |
stattfinden, in dem es keine Übergriffe auf die Zivilbevölkerung gibt. | |
Der UN-Sicherheitsrat hat daher die Resolution 1973 erlassen - eine | |
völkerrechtlich zulässige Intervention, weil der Sicherheitsrat nach | |
Kapitel VII der UN-Charta handeln durfte. Schon 1994 verfuhr der | |
Sicherheitsrat im Fall Haitis ähnlich: Die Völkerrechtspraxis hat es als | |
zulässige Fortentwicklung der Charta gelten lassen, dass auch | |
innerstaatliche Konflikte eine Intervention der UN zur Folge haben können. | |
Die Resolution weist nun aber eine entscheidende Begrenzung auf: Sie | |
erlaubt den Einsatz militärischer Gewalt nur, um "Zivilisten und von | |
Zivilisten bewohnte Gebiete zu schonen". Konsequenterweise gestattet sie | |
weder den Einsatz von Bodentruppen noch die Bewaffnung von Rebellen. Man | |
mag gerade den Verzicht auf Bodentruppen als zu kurz gegriffen kritisieren. | |
Dann muss man auf eine neue UN-Resolution hinwirken. Dabei sollte man aber | |
bedenken, dass Versuche der Demokratisierung durch Regimewechsel von außen | |
immer wieder grandios gescheitert sind - zuletzt etwa in Afghanistan - und | |
dass militärische Maßnahmen zur Verteidigung der Menschenrechte nicht | |
selten selbst Menschenrechte gefährden. | |
Im Fall Libyens tritt noch ein postkolonialer Einwand hinzu: Die | |
vermeintlich altruistische Intervention zielt zugleich auf eine egoistisch | |
motivierte Ordnungsbildung. Um die europäischen Grenzen zu sichern und | |
Migrationsbewegungen abzuwenden, werden die alten postkolonialen | |
Beziehungsmuster pragmatisch auf neue Netzwerke umgestellt. Europa macht | |
den alten, jahrzehntelang geförderten Machthabern den Prozess - und den | |
neuen Kräften den Hof. | |
## Menschenrechtsimperialismus | |
Wenn man trotz dieser Einwände einen rechtspolitischen Weltkonsens erzielen | |
möchte, um im Fall Libyens den unsicheren Pfad zu beschreiten, mittels | |
einer militärischen Intervention die Menschenrechte zu garantieren, | |
verbieten sich nationalstaatliche Alleingänge. Es gilt vielmehr, in den | |
existierenden Institutionen der Weltgesellschaft einen Konsens für eine | |
breit getragene Transformationsstrategie zu erarbeiten. | |
Bei aller Kritik am System der Vereinten Nationen ist genau das nun seine | |
Leistung: Ein multilaterales Entscheidungsverfahren ist im Vergleich zu | |
unilateralem Vorgehen das geringere Übel. Das UN-Verfahren zwingt letztlich | |
zu einem Minimalkonsens im Sicherheitsrat und berechtigt seine ständigen | |
Mitglieder zum Veto. Diese Prozedur muss weiter demokratisiert und | |
juridifiziert werden - sie ist aber allemal besser als ein Verfahren, das | |
die Entscheidung über Krieg und Frieden unilateral einzelnen | |
Nationalstaaten überlässt. | |
Wer stattdessen versucht, die Institutionen des Völkerrechts zu umgehen, | |
legitimiert nur das Recht des Stärkeren. Eine Entrechtlichung der | |
internationalen Beziehungen wäre die Folge. Der Kerngedanke der Aufklärung, | |
dass Menschenrechte Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe darstellen, | |
wird dann in sein Gegenteil verkehrt. Ein so verstandener transnationaler | |
Menschenrechtsimperialismus pfeift aufs Weltrecht. Er wäre die Fortsetzung | |
der Politik mit anderen, rein militärischen Mitteln. | |
15 Apr 2011 | |
## LINKS | |
[1] /1/debatte/kommentar/artikel/1/das-unglueck-der-anderen/ | |
## AUTOREN | |
Andreas Fischer-Lescano | |
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