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# taz.de -- Neue Verfassung in Ungarn: Auf ins 19. Jahrhundert
> Das ungarische Parlament verabschiedet die neue Verfassung. Kritiker
> fürchten um die Rechte von Andersgläubigen, Homosexuellen und
> Alleinerziehenden.
Bild: Singen für die Nation: Präsident Pal Schmitt (l.), Zsolt Semjen und Pre…
WIEN taz | Ungarns Parlament hat Montag nachmittag die umstrittene neue
Verfassung verabschiedet. 262 Abgeordnete stimmten in dem von der
regierenden rechtspopulistischen FIDESZ dominierten Einkammernparlament für
das neue Grundgesetz, das nach der Unterzeichnung durch Staatspräsident Pál
Schmitt am kommenden Montag mit Januar 2012 in Kraft treten soll. Es
ersetzt die mehrmals teilweise reformierte Verfassung von 1949.
Die oppositionellen Sozialdemokraten (MSZP) und die grünalternative LMP
("Politik kann anders sein") blieben der Abstimmung fern. Die rechtsextreme
Jobbik, drittstärkste Kraft, stimmte dagegen, da wichtige Forderungen, wie
die Wiedereinführung der Todesstrafe, nicht berücksichtigt wurden und die
Verfassung die "alten kommunistischen Führer nicht aus dem öffentlichen
Leben ausschließt". Eine Enthaltung wurde registriert.
Da FIDESZ aber seit den Wahlen vor einem Jahr über die notwendige
Zweidrittelmehrheit verfügt, konnte die Partei von Premier Viktor Orbán ihr
Projekt im Alleingang durchziehen. Parlamentspräsident Lászlo Köver feierte
das neue Grundgesetz nach vollbrachter Tat als "legitim, national und
integrierend, auf die Traditionen aufbauend".
[1][Zahlreiche Demonstrationen am Wochenende und tagelange Mahnwachen] von
Oppositionellen vor der Stephansbasilika und dem Amtssitz des Präsidenten
in der Budaer Burg konnten zwar keine Veränderungen erzwingen, zeigen aber,
dass nicht ganz Ungarn hinter dem überfallsartig schnell geschriebenen und
durchgepeitschten Verfassungsentwurf steht. Laut Umfragen hätten sich 60
Prozent der Bevölkerung eine Volksabstimmung gewünscht.
Eine Konsultation via Fragebogen holte von den rund acht Millionen
Wahlberechtigten nur Meinungen zu Nebenaspekten ein. Ob sich die Ungarn
überhaupt eine neue Verfassung wünschen, wurde genauso wenig abgefragt, wie
das schwülstige Bekenntnis zu Ungarntum und Christentum, das in der
Präambel als konstituierend für die Identität des ungarischen Volkes
festgeschrieben wurde.
## Klerikal-nationalistische Kampfschrift
Die Präambel, die sich wie eine klerikal-nationalistische Kampfschrift
liest, beruft sich auf König Stephan, den Heiligen, der sein Volk vor über
1.000 Jahren zum Christentum bekehrte, und auf die "Heilige Stephanskrone".
Christentum, Familie, Treue, Glaube, Liebe und Nationalstolz werden so
feierlich beschworen, dass mache Kritiker um die Rechte von
Andersgläubigen, Homosexuellen und Alleinerziehenden fürchten. Aufgewertet
werden hingegen ethnische Ungarn in den Nachbarländern, die mit einem Pass
ausgestattet werden können und demnächst auch wählen dürfen.
Kritisiert wird auch, dass die Rolle des Verfassungsgerichts geschwächt und
sich FIDESZ die Macht auch weit über die derzeitige Legislaturperiode
sichert. 2014 muss wieder gewählt werden. Aber selbst wenn dann eine andere
Partei ans Ruder kommen sollte, wird Orbán jede wichtige Reform blockieren
können. Denn für viele Entscheidungen ist dann eine qualifizierte Mehrheit
von zwei Dritteln notwendig. So steht etwa auch der Forint als
Landeswährung in der Verfassung. Und zahlreiche Entscheidungsträger können
wir Amtsperioden von bis zu neun Jahren ernannt werden.
Der sozialdemokratische Ex-Premier Ferenc Gyurcsány hatte Orbán am Samstag
auf einer Protestkundgebung vorgeworfen, die Republik "verraten" und die
"Pressefreiheit mit Füßen getreten" zu haben. Er fürchtet auch um die
Unabhängigkeit der Justiz, da die Staatsanwaltschaft "für politische Ziele"
eingespannt und die Gerichte "eingeschüchtert" würden.
An Premier Viktor Orbán prallen solche Vorwürfe ab, wie Wassertropfen an
einer Teflonpfanne. Seine Verfassung sei "ästhetisch schön", erklärte er am
Vorabend der Abstimmung. Aber selbst UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon, der
Montag zu einem dreitägigen Besuch in Budapest eintraf, konnte sein
Unbehagen mit der Entwicklung in Ungarn nicht verbergen, als er seiner
Hoffnung Ausdruck verlieh, dass der "Schutz der grundlegenden
Freiheitsrechte" gewährleistet werde.
18 Apr 2011
## LINKS
[1] /1/politik/europa/artikel/1/orbans-nationales-glaubensbekenntnis/
## AUTOREN
Ralf Leonhard
## TAGS
taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“
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