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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die drei Gewänder des Oberst Gaddafi
> Seit 42 Jahren ist der libysche Diktator an der Macht und hat mehr als
> einen Kurswechsel vorgenommen: Vom Panarabismus, zum Nationalismus, zum
> Tribalismus.
Bild: Der "Koordinator der Volksmacht": Gaddafis Sohn Saif al-Islam.
Saif al-Islam, einer der Söhne von Muammar al-Gaddafi, erklärte am 19.
Februar in einem Interview mit dem Fernsehsender al-Arabia, er werde
gemeinsam mit seinem Vater tiefgreifende politische Reformen einleiten.
Darüber hinaus behauptete der Sohn des "Revolutionsführers", der seit
seinem Studium an der Londoner School of Economics die Kontakte des Regimes
zum Westen wahrnimmt, sein Vater habe sich schon eine Woche nach Beginn der
Aufstände mit Oppositionellen getroffen. Dabei habe er eine radikale
Verfassungsänderung, neue Gesetze und freie Wahlen zugesichert. Kein Wort
verlor Saif al-Islam allerdings über die Initiative zur politischen
Öffnung, die er selbst 2003 gestartet hatte. Die wurde nämlich fünf Jahre
danach wieder abgeblasen.
In der Tat hatte Saif al-Islam damals eine Verfassungsreform versprochen
und sogar den 1. September 2008 als Datum für ihr Inkrafttreten festgelegt.
Insgesamt sollten 21 neue grundlegende Gesetze beschlossen werden, darunter
eine Änderung des Strafrechts im Hinblick auf Investitionen und eine
Novellierung des Zivil- und Handelsrechts. Die Neuerungen wurden als Teil
einer Initiative präsentiert, die Libyen aus der internationalen
politischen Isolation herausführen sollte. Saif al-Islam verband sein
Projekt damals sogar mit dem Aufruf, eine Zivilgesellschaft aufzubauen,
also Gewerkschaften, Verbände und Berufsvereinigungen wie eine
Anwaltskammer als vom Staat unabhängige Organisationen zuzulassen. Auf
diese Weise wollte das Regime, das sich seit der Machtergreifung von Oberst
Gaddafi nur auf das Ethos der Revolution und die Loyalität der Stämme
berief, eine neue, verfassungsmäßige Legitimität gewinnen.
Dennoch wurden die Gesetzesvorschläge niemals dem libyschen Parlament, dem
Allgemeinen Volkskongress, zur Abstimmung vorgelegt. Im Rückblick scheint
das Ganze ein politisches Ablenkungsmanöver gewesen zu sein, mit dem das
Regime Zeit gewinnen und sein Image bei den westlichen Regierungen
verbessern wollte. Der mit der Ausformulierung der neuen Verfassung
betraute Richter erklärte später, er habe sich vor allem von den Gedanken
des Revolutionsführers in dessen "Grünem Buch" leiten lassen. Es sei
keineswegs sein Auftrag gewesen, das Regierungssystem zu verändern, sondern
nur, die vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen neu zu gruppieren. Der 1.
September 2008, der als Termin für Wahlen und das Inkrafttreten der
Verfassung angekündigt war, geriet schlicht in Vergessenheit.
## Machthaber schafften Monarchie ab
Um diesen Schachzug zu verstehen, muss man einen Blick auf die libysche
Geschichte und die Grundüberzeugungen des Revolutionsführers Muammar
al-Gaddafi werfen. Als die Freien Offiziere am 1. September 1969 die Macht
übernahmen, hatte Libyen nur 2,5 Millionen Einwohner und mit Tripolis,
Bengasi und Misurata nur drei größere Städte. Im Grunde war das an Öl- und
Gasvorkommen reiche Land eine Stammesgesellschaft, die zu drei Vierteln aus
Beduinen bestand.
Die neuen Machthaber schafften die Monarchie ab, begründeten eine arabische
Republik und etablierten im März 1973 auf einem Kongress die "Macht des
Volkes". Schon seit 1972 war das Gesetz Nr. 17 in Kraft, das die Gründung
von politischen Parteien untersagte, nach dem Motto: "Wer einer Partei
angehört, ist ein Verräter."
Zum Rückgrat des Systems wurde nunmehr die aus der "Bewegung der
Volkskomitees" hervorgegangene Arabische Sozialistische Union. Dass sich
diese Einheitspartei - in Anlehnung an die nasseristischen Bewegungen -
sozialistisch nannte, war in gewisser Weise paradox, weil Oberst Gaddafi
nach eigenem Bekunden einen "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und
Sozialismus erkunden wollte.
Dem tunesischen Forscher Taoufik Monasteri zufolge ist Gaddafi durch die
Ideen des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau beeinflusst; auf
diesen berief er sich bei seiner Gründung einer "bédouinocratie" in
Libyen.Wichtigstes Merkmal dieser "Beduinenherrschaft" ist die Abwesenheit
eines "Staates": Der Staatspräsident ist durch den "Revolutionsführer"
ersetzt, die Parteien durch Volkskomitees, die auch die Verwaltung des
Landes beaufsichtigen. Ein Gegengewicht bilden die "Revolutionskomitees"
(ergänzt durch "Kontrollkomitees" als Vermittlungsinstanz bei
Meinungsverschiedenheiten zwischen den Revolutions- und den Volkskomitees).
Wie diese Institutionen funktionierten, blieb im Dunkel, zumal kein Mensch
wusste, wie deren Mitglieder ernannt wurden.
## Schutz durch den Stamm sicher
Fest stand allerdings immer, dass sich Gaddafi auf den Schutz durch seinen
Stamm, die Guededfa-Beduinen, stets verlassen konnte. Dass er bei seinen
Auslandsreisen das berühmte Beduinenzelt (khaima) mitführte, sollte daran
erinnern, dass er sich diesem Stamm auch jenseits der libyschen Grenzen
zugehörig fühlte. Dabei ging es keineswegs nur um eine folkloristische
Inszenierung. Es war vielmehr die klare Botschaft an die Beduinen, die ihn
nicht als Präsidenten, sondern als Führer gewählt hatten - ein Status, auf
den sich Gaddafi stets und bis heute beruft, wenn er erklärt, er könne
nicht abgesetzt werden.
Gaddafi hat während seiner Herrschaft mehr als einen Kurswechsel
vorgenommen, vom Panarabismus zum Nationalismus und dann zum Tribalismus,
blieb dabei aber stets ein Feind der städtischen Kultur. Das zeigt sich an
seiner khaima ebenso wie darin, dass er nie einen Städter zum Minister
machte.
1977 löste er die durch den Revolutionären Kommandorat (RCC) verkörperte
kollektive Führung auf, die seit 1969 die Macht ausgeübt hatte. In der
Folge unterdrückte er nicht nur die fortschrittlichen Kräfte, die
Islamisten und die Nationalisten, sondern schaltete auch der Reihe nach
seine alten Kampfgefährten aus den Reihen der Freien Offiziere aus. 1993
traf es auch Abdessalam Jalloud, einen engen Freund von Gaddafi und Nummer
zwei beim Putsch von 1969. Zwei weitere Protagonisten der Revolution,
Mohammed Nejib und Mokhtar Karoui, waren bereits 1972 aus dem RCC
ausgeschieden, weil ihre Forderung nach Übergabe der Macht an eine zivile
Regierung abgelehnt wurde. Im selben Jahr wurde Oberst Mohammed
al-Meguerief nach einem zweifelhaften Gerichtsverfahren verurteilt.
Zwei weitere RCC-Mitglieder, Bechir al-Houadi und Jaouad Hamsa wurden 1975
ermordet, Omar Mehichi fiel 1984 einem Anschlag zum Opfer. Und Abdel-Monem
al-Houni, der 25 Jahre lang Dissident gewesen war und sich erst 2010 wieder
mit Gaddafi versöhnt hatte, trat mit Beginn des Aufstands im Februar als
Repräsentant Libyens bei der Arabischen Liga zurück. Von den zwölf
Mitgliedern des ehemaligen Kommandorats sind damit nur noch drei übrig
geblieben: Abu Bakr Yunis Jaber (der inzwischen zu den Aufständischen
übergelaufen ist), Major Khouildi Hamidi und General Mustafa Kharoubi. Alle
drei waren längst auf unbedeutende Posten abgeschoben worden.
## Gefährten gegen Söhne getauscht
Schritt für Schritt tauschte Gaddafi seine alten Gefährten in hohen
Positionen gegen seine Söhne al-Saadi, Mutasim, Mohammed und Khamis aus.
Nach dem Scheitern der "Öffnungspolitik" machte er schließlich im Oktober
2010 seinen Sohn Saif al-Islam zum "Koordinator der Volksmacht", was
allgemeines Erstaunen hervorrief. Saif al-Islam wurde damit eine Art
Staatsoberhaupt, dem die wichtigsten Machtorgane unterstehen: der
Allgemeine Volkskongress (das Parlament), das Allgemeine Volkskomitee (die
Regierung) und die Sicherheitsorgane.
Im April 2010 ließ Gaddafi den Gefängniskomplex Abu Salim am Stadtrand von
Tripolis abreißen, womit zweifellos die Spuren eines Massakers verwischen
werden sollten. Nach Angaben von NGOs wurden in diesem
Hochsicherheitsgefängnis 1996 mehr als 1 200 politische Gefangene
umgebracht. In diesem erstickenden politischen Klima wurde bereits die
Absicht, eine friedliche Demonstration zu organisieren, mit schweren
Gefängnisstrafen belegt. So wurden die Aktivisten Jamal al-Haji und Faraj
Saleh Hmeed im Februar 2007 von einem Staatssicherheitsgericht zu 12 und 15
Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie, gemeinsam mit zehn anderen, die
ebenfalls vor Gericht gestellt wurden, zu einer friedlichen Kundgebung in
Tripolis aufgerufen hatten. Damit wollten sie an die ein Jahr zuvor bei
Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften getöteten Demonstranten erinnern.
Dasselbe Staatssicherheitsgericht verurteilte im Juni 2008 den
Menschenrechtsaktivisten Idriss Boufayed zu 25 Jahren Haft. Die Anklage
lautete auf Verschwörung gegen den Staat und Spionage, weil sich Boufayed
mit einem in Tripolis akkreditierten US-Diplomaten getroffen hatte.
Der Machtmissbrauch und die Unterdrückung aller bürgerlichen Freiheiten
brachte schließlich auch die libyschen Eliten dazu, den Diktator Gaddafi
und seine Handlanger offen zu kritisieren und sich gegen die politische
Bevormundung zu wehren. Im August 2010 trat bei einem Kongress in Bengasi
zum Thema "Stämme und Stammessystem in Libyen" die Politologin Amel Laabidi
von der Universität Garyounis (Bengasi) mit einem Vortrag auf, der sich
kritisch mit dem Einfluss der Stämme in der Politik auseinandersetzte. Sie
wies darauf hin, dass die Einrichtung einer "Sozialen Führung des Volkes"
in den 1990er Jahren zum Zweck hatte, die Stämme offiziell zur politischen
Kraft zu erklären. Das aber habe zu vermehrter Korruption, Rechtsbeugung
und Gefährdung der nationalen Sicherheit geführt, weil es keine staatlichen
Institutionen als Gegengewicht zum Einfluss der Stämme mehr gebe.
Im September 2010 meldete sich der ehemalige Vorsitzende der
Anwaltsvereinigung, Mohammed Ibrahim al-Allagui zu Wort. Er kritisierte die
uneingeschränkte Macht der Volkskomitees, forderte deren Kontrolle durch
Gesetze und sprach sich für politischen Pluralismus aus. Al-Allagui wagte
es auch, sich öffentlich mit dem Sekretär des Volkskongresses Mohammed
Jibril anzulegen, der auch für Gewerkschaften und Berufsverbände zuständig
ist. Er beschuldigte ihn, sich in die Wahl der Vorstände ziviler
Vereinigungen eingemischt zu haben. Tatsächlich hatte Jibril 2009 die
Anwaltsvereinigung von Bengasi daran gehindert, ihre Hauptversammlung
abzuhalten und die bereits seit einem Jahr überfällige Vorstandswahl
durchzuführen.
## Recht auf Gründung von Gewerkschaften
Am 10. September 2010 schließlich forderte Ezzat Kamel al-Akhour, die
Tochter eines früheren Außenministers, in der Zeitschrift Oya das Recht auf
die Gründung freier Gewerkschaften. Sie kritisierte vor allem ein Gesetz
von 2001 über zivile Vereinigungen, das die Aufsicht über NGOs von der
Justiz auf die Exekutive übertragen hatte, worin sie eine "Geringschätzung
der Menschenrechte" und eine "Verschärfung der Abschreckung" sah.
Angesichts der wachsenden Unruhe im Land zeigten sich die Machthaber
manchmal zerstritten, manchmal, wenn es um ihre eigenen Interessen ging,
sehr einig. So etwa im Fall von Mohammed Larbi Essarit: Der für seine
kritischen Artikel bekannte Journalist wurde Ende September 2010 in Bengasi
überfallen und zusammengeschlagen, sodass er in die Notaufnahme eines
Krankenhauses eingeliefert werden musste. Von dort wurde er trotz seiner
erheblichen Verletzungen von der Polizei zum Verhör abgeholt. Daraufhin
beeilte sich die von Saif al-Islam geleitete Internationale
Gaddafi-Stiftung, über ihre "Vereinigung für Menschenrechte" zu erklären,
die Sicherheitsorgane hätten mit diesem Vorfall nichts zu tun.
Der Autismus der Macht, die Besetzung aller politischen
Entscheidungszentren und aller wichtigen militärischen Kommandoposten durch
die Gaddafi-Familie, die Überwachung und Gängelung der Bevölkerung und die
Zensur der Presse - all das hat einen friedlichen Wandel völlig unmöglich
gemacht und die Menschen zum Aufstand getrieben.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
[1][Le Monde diplomatique] vom 8.4.2011
22 Apr 2011
## LINKS
[1] http://www.monde-diplomatique.de
## AUTOREN
Rachid Khechana
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