| # taz.de -- Französisches Mystery-Kino: Auf der dunklen Seite | |
| > Géraldine Bajards Thriller "La Lisière - Am Waldrand" verzichtet auf | |
| > Psychologie und ist reich an Atmosphäre. Man ist gefesselt, ohne zu | |
| > begreifen. | |
| Bild: Junge Menschen, allein im Wald. | |
| BERLIN taz | Ein Film mag auf Handlung verzichten können, aber nie auf | |
| Atmosphäre. So unterschiedliche Regisseure wie Jim Jarmusch, Gus Van Sant | |
| und David Lynch haben bewiesen, wie viel Spannung sich erzeugen lässt, wenn | |
| nichts passiert. | |
| Dass vor allem Lynch zu den Vorbildern der Regiedebütantin Géraldine Bajard | |
| gehört, wird schon aus den ersten Bildern von "La Lisiere - Am Waldrand" | |
| deutlich: Ein Mädchen mit blonder Perücke steht an einem einsamen | |
| Wegesrand. Das Scheinwerferpaar eines Autos nähert sich. Es folgt etwas, | |
| das sich anhört wie ein Gerangel im Wald. Eine Horde Jugendlicher mit | |
| Taschenlampen rottet sich stumm zusammen. In der Szene am nächsten Morgen | |
| macht ein Unbeteiligter eine Entdeckung auf einem Feld. Ohne dass man | |
| sieht, was er sieht, weiß man doch, dass es sich um eine Leiche handeln | |
| muss. | |
| Bajard setzt in ihrem Film ganz auf das Interesse des Zuschauers am | |
| Morbiden, an den Untiefen des menschlichen Zusammenlebens. Wobei die Lust | |
| am Morbiden mit einem Wahrnehmungs-Thrill einhergeht, der mit der | |
| Grenzlinie "Am Waldrand" bestens beschrieben ist: Auf der einen, der hellen | |
| Seite sind die Dinge klar umrissen, selbst wenn man sie mit abgestumpftem | |
| Blick betrachtet; auf der anderen aber, im Wald, ist alles schemenhaft, | |
| dafür nimmt man es mit geschärften Sinnen wahr. | |
| Aus der Abgestumpftheit herauszukommen mag eines der Motive für den jungen | |
| Arzt François (Melvil Poupaud) sein, in die Provinz zu ziehen. Aber auch | |
| darüber kann man als Zuschauer nur rätseln. François redet nicht viel über | |
| sich und seine Absichten. Doch wo François hinzieht, gibt es diesen | |
| Waldrand, an dem er oft vorbeikommt und die Jugendlichen mit ihren | |
| seltsamen Ritualen beobachtet. In seiner Struktur folgt "La Lisiere - Am | |
| Waldrand" ganz den bekannten Mustern eines Mystery-Thrillers. | |
| ## Wenn Großstadt auf Provinz trifft | |
| Da ist der nüchterne Großstädter, der auf eine Provinzgemeinschaft trifft, | |
| die ihm schnell das Gefühl gibt, sich gegen ihn verschworen zu haben. Doch | |
| Bajard verfremdet das Schema auf spannende Weise: So ist es kein Dorf, in | |
| das François zieht, sondern eine Neubausiedlung. Trotzdem kennen sich die | |
| Leute hier, er wird überall schnell als "der Neue" identifiziert. Die | |
| lokalen Honoratioren suchen seine Freundschaft. Allerdings handelt es sich | |
| dabei nicht um gutmütige, brave Bürger, sondern um einen irritierend | |
| vertraulichen Baulöwen (Hippolyte Girardot), dessen Gattin (Susanne Wuest) | |
| als Exmodell die Jugendlichen des Dorfes fotografiert, in hochaufgeladenen | |
| Posen. | |
| Bajard hat als in der Schweiz geborene Französin ihr Regiestudium an der | |
| dffb in Berlin abgeschlossen. Ihre Filmografie weist eine Zusammenarbeit in | |
| verschiedenen Funktionen mit Regisseuren wie Angela Schanelec, Jessica | |
| Hausner, Valeska Grisebach und Claire Denis auf. In vielen Szenen meint man | |
| in "La Lisière" die Handschrift der Berliner Schule zu erkennen. Da ist die | |
| betonte Beiläufigkeit und Natürlichkeit, in der die jungen Mädchen beim | |
| Tratsch über den attraktiven Arzt gezeigt werden. Der atmosphärische | |
| Kontext aber verleiht dieser "Natürlichkeit" einen Charme des Unheimlichen. | |
| Dabei verzichtet Bajard auf jede Anspielung auf Dämonisches oder | |
| Übersinnliches. Sie hält aber auch die Seite der einfachen | |
| Psychologisierungen kurz: Ist die kleine Claire (Alice de Jode) wirklich | |
| verliebt in François? Oder gehört das zum manipulativen Spiel der | |
| jugendlichen Cliquenanführer Mathieu (Elias Borst-Schumann) und Cédric | |
| (Phénix Brosard)? | |
| Der Reichtum an Atmosphäre bei gleichzeitigem Verzicht auf Psychologie | |
| bereitet dem Zuschauer über die Länge des Films auch Frustrationen. Nicht | |
| immer ist man sich sicher, ob die geheimnisvollen Andeutungen auch wirklich | |
| von darunter liegenden Geheimnissen "gedeckt" sind. Trotzdem gibt es genug, | |
| was einen bei der Stange hält: Figuren, die jede für sich einen eigenen | |
| Kosmos bilden, ein System aus Nichtverstehen und Verschlossenheit, die Welt | |
| als ewiger Waldrand, gewissermaßen. | |
| 28 Apr 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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