# taz.de -- Offene Jobgrenzen: Herr Nachbar darf Kollege werden | |
> Deutschland schottete seinen Arbeitsmarkt gegen die neuen EU-Staaten ab. | |
> Nun fallen die Grenzen wirklich. Wer wird kommen, was bedeutet das? | |
Bild: Jetzt dürfen die Kollegen aus Polen auch mit anpacken: Baustelle in eine… | |
BERLIN taz | Der Maurer aus Tschechien, der Ingenieur aus Polen, die | |
Altenpflegerin aus Lettland, die Biochemikerin aus Ungarn - sie alle haben | |
ab Sonntag eine neue Perspektive: Deutschland. Ab dem 1. Mai dürfen sich | |
Menschen aus acht EU-Beitrittsstaaten ohne Einschränkungen in Deutschland | |
auf die Suche nach Jobs und Ausbildungsplätzen machen. Das betrifft Polen, | |
Ungarn, Tschechen, Slowenen, Esten, Letten, Litauer und Slowaken. | |
Nach der EU-Osterweiterung vor sieben Jahren galten noch Beschränkungen: | |
Beschäftigte benötigten eine Arbeitsgenehmigung, die örtliche | |
Arbeitsagentur prüfte auch, ob es nicht doch einen geeigneten deutschen | |
Bewerber gab. Für Selbstständige wie Ärzte, Anwälte oder Handwerker entfiel | |
die Genehmigung durch das Jobcenter. | |
Im Bau, in der industriellen Reinigung und der Innendekoration galten | |
hingegen noch einmal besonders strenge Regeln für die neuen EU-Bürger. | |
Dafür konnten deutsche Bauern saisonweise Äpfelpflücker oder Spargelstecher | |
aus Osteuropa anheuern. Und dann gab es natürlich auch noch die | |
Schwarzarbeit. | |
Nun fallen die Begrenzungen. "Wir erwarten pro Jahr eine Zuwanderung | |
zwischen 100.000 und 140.000 Arbeitskräften", sagt Herbert Brücker vom | |
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. | |
Viel ist das nicht, zumal 2009 rund 13.000 Menschen mehr Deutschland | |
endgültig den Rücken kehrten als einwanderten. Mehr Arbeitsmigration wäre | |
aber dringend nötig. Ohne sie werden der alternden deutschen Gesellschaft | |
in wenigen Jahrzehnten mehrere Millionen Beschäftigte fehlen. | |
Ob Osteuropäer diese Lücken füllen, ist unklar. Denn seit Mai 2004 sind die | |
meisten Computerspezialisten, Ingenieure und Facharbeiter lieber woanders | |
hingewandert. Sie zogen nach Großbritannien und Irland, wo die Regierungen | |
den freien Zugang zu Jobs früher gewährten. | |
Allein Großbritannien gewann 2006 zwischen 450.000 und 600.000 neue | |
Arbeitskräfte. Die Wirtschaft florierte, auch die Löhne blieben dank eines | |
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns relativ stabil. | |
## Eher Englisch als Deutsch | |
Wie sehr sich die Reiserouten nun verändern, vermag der Forscher Brücker | |
nicht zu sagen. Zu viel spielt eine Rolle: Für Deutschland spricht derzeit, | |
dass die Konjunktur boomt. Andererseits lernen viele Osteuropäer in der | |
Schule Englisch, Deutsch müssen sie sich erst mühsam aneignen. | |
Klar ist hingegen, dass genau die kommen, nach denen die Wirtschaft | |
verzweifelt ruft: Fachkräfte. "Es sind vor allem junge und sehr gut | |
qualifizierte Menschen, die ihre Länder in Osteuropa in den vergangenen | |
Jahren verlassen haben", sagt Brücker. | |
Ausbildungsbetriebe in Grenznähe zu Polen oder Tschechien haben längst | |
Pläne geschmiedet, wie sie Schulabgänger aus Osteuropa auf unbesetzte | |
Ausbildungsplätze im deutschen Handwerk locken können. | |
Nicht alle werden ihre Traumstelle bekommen. In Großbritannien fanden sich | |
viele polnische oder tschechische Akademiker als Bauarbeiter oder Kellner | |
wieder. | |
"Dieser Einsatz unter Qualifikation wird auch hier ein großes Problem | |
sein", sagt Brücker. Zu häufig entschieden die örtlichen Kammern nach | |
Gusto, ob eine ausländische Ausbildung anerkannt werde. | |
Und wie sieht die Stimmung in Deutschland aus? Laut einer Umfrage der | |
Gesellschaft für Konsumforschung befürchten 73 Prozent, dass die neue | |
Freizügigkeit sie den Job kosten könnte. | |
"Die Bundesregierung hat es versäumt, die Menschen hier auf die neuen | |
Arbeitnehmer vorzubereiten. So können Ängste und Ablehnung wachsen", | |
kritisiert Volker Roßocha vom DGB. Klaus Wiesehügel, Chef der Gewerkschaft | |
Bauen Agrar Umwelt, sagt: "Nicht die Menschen, die kommen, sind das | |
Problem, sondern die Bedingungen, unter denen sie hier arbeiten müssen." | |
Dabei wissen die Gewerkschaften, dass Lohndumping oder Verdrängung drohen, | |
weil Ungarn oder Tschechen sich vielleicht mit weniger Lohn begnügen. | |
Grundsätzlich gelten für sie die deutschen Arbeitsbestimmungen und Löhne. | |
Doch dies betrifft nur das klassische Arbeitsverhälntis. | |
## Der Entsendungstrick | |
Denn vor sogenannten Entsendungen ist das Baugewerbe nicht mehr geschützt. | |
Künftig dürfen osteuropäische oder deutsche Unternehmen mit Sitz in | |
Osteuropa als Dienstleister ihre Maurer, Verputzer oder Fliesenleger zum | |
vorübergehenden Malochen auf den Bau schicken. "Vorübergehend" ist | |
allerdings ein dehnbarer Begriff: Faktisch ist einer Entsendung keine | |
zeitliche Grenze gesetzt. | |
Forscher rechnen damit, dass deutlich mehr osteuropäische Jobnomaden nach | |
Deutschland kommen. Die Crux: Nur in den neun Branchen, in denen ein | |
branchenweiter Mindestlohn vorgeschrieben ist, darunter Baugewerbe, | |
Gebäudereinigung und Pflege, müssen sich die Firmen an deutsche | |
Lohnuntergrenzen halten. | |
In allen anderen Bereichen können sie lettische oder litauische Löhne | |
zahlen. Die Gewerkschaften kämpfen daher für die Einführung weiterer | |
Mindestlöhne beispielsweise für das Wach- und Sicherheitsgewerbe. | |
## Wettbewerbsnachteile | |
Doch Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands des Deutschen | |
Baugewerbes, sieht trotz einer existierenden Lohnuntergrenze | |
Wettbewerbsnachteile: "Die deutschen Baubetriebe zahlen regelmäßig mehr als | |
den Mindestlohn." | |
Rechne man dazu, dass der polnische Betrieb 24 Monate nur polnische | |
Sozialversicherungsbeiträge zahlen müsse, werde klar, welcher Druck | |
entstehe: Während die deutsche Arbeitsstunde 39,24 Euro koste, seien es in | |
einem polnischen Betrieb 26,70 Euro. Pakleppa verlangt, die | |
Arbeitgeberbeiträge für die Sozialversicherung zu reduzieren. | |
Auch für die Leiharbeit sind nicht alle Gefahren gebannt. Zwar wurde im | |
Zuge der Hartz-Reformen ein branchenweiter Mindestlohn verabschiedet. Aber | |
der DGB sieht die Gefahr, dass der Mindestlohn unterlaufen wird, weil die | |
Regelungen zu löchrig sind. | |
Leiharbeiter würden dann zu Entsandten aus anderen Branchen umdeklariert. | |
Schon seit Wochen informieren sich deutsche Firmen, wie sich in Osteuropa | |
Firmen gründen lassen. Die könnten dann billiges Personal nach Deutschland | |
schicken. | |
29 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Eva Völpel | |
## TAGS | |
EU | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
10 Jahre EU-Osterweiterung: Erfolg mit Macken | |
Zehn Jahre nach der bisher größten EU-Erweiterung fällt die Bilanz gemischt | |
aus. Die Europäische Union ist heute ärmer denn je – aber auch attraktiver. | |
Kommentar Fachkräftemangel: Selbstverschuldete Misere | |
Soll also inländisch der Fachkräftemangel bekämpft werden, gilt es zu | |
handeln und nicht zu wünschen: Minijobs gehören abgeschafft, der Kitaausbau | |
vorangetrieben. | |
Kommentar Mindestlohn: Willkommen im Land der Nichtstuer | |
Die Bundesregierungen haben beim Mindestlohn nichts getan. Die | |
Leidtragenden dieser Politik werden nach der Arbeitsmarktöffnung die | |
Arbeitnehmer in Niedriglohnjobs sein. | |
Freizügigkeit für Arbeitnehmer: Buckeln für Deutschland? Nein danke! | |
In Deutschland zu arbeiten ist für gut qualifizierte polnische Facharbeiter | |
nicht mehr so verlockend. Viele haben sich in Polen eine Existenz | |
aufgebaut. | |
TV-Doku über Arbeitnehmerfreisetzung: Die Polen kommen - nicht | |
Ab 1. Mai dürfen Bürger aus östlichen EU-Staaten unbeschränkt in | |
Deutschland arbeiten. Das wird kaum etwas ändern, so der ZDF-Film "Arbeit | |
ohne Grenzen" (0.35 Uhr). | |
Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Berlin: Ein Gespenst geht um in Euro… | |
Bald dürfen osteuropäische Arbeitnehmer uneingeschränkt in Deutschland | |
arbeiten. Wie viele kommen, weiß keiner genau. Aber ein Mindestlohn für | |
alle wäre hilfreich. | |
Streit über Migranten: Frankreich fordert "Notbremse" | |
Ein bilateraler Flüchtlingsgipfel zwischen Frankreich und Italien findet am | |
Dienstag in Rom statt. Paris fordert eine neue Klausel im | |
Schengen-Abkommen, die Grenzkontrollen erlaubt. | |
Pflegeausbildungen werden nicht anerkannt: Polnische Pfleger bleiben weg | |
Ab 1. Mai können Fachkräfte EU-weit arbeiten. Experten erwarten jedoch | |
keine ausländischen Pflegekräfte, da die Berufsabschlüsse nicht anerkannt | |
sind. |