# taz.de -- Berliner Apotheker zockt Krankenkassen ab: Millionen auf Rezept | |
> Ein Berliner Apotheker betrügt die Krankenkassen mit Hilfe von | |
> HIV-Infizierten um fast 11 Millionen Euro. Nun ist die Apotheke pleite, | |
> ihr Inhaber steht vor Gericht. | |
Bild: Geld statt Medikamente: Einige Patienten verkauften dem Apotheker teure R… | |
Wieso erwähnt keiner im Gerichtssaal die Abschleppwagen, die eines Tages im | |
November vor seiner Villa am Stadtrand hielten und seine Autos aufluden? | |
Den großen Mercedes, die geliebten Lamborghinis, den Jaguar. Alle | |
beschlagnahmt vom Finanzamt als Pfand für seine Steuerschulden. "Ganz | |
entsetzlich war das, plötzlich ohne Autos", haucht Hans-Joachim D. ins | |
Mikrofon. "Das waren ja alles nur Gebrauchtwagen, aber ich hab mich immer | |
so daran erfreut." | |
Ein kleiner Mann sitzt vor den Richtern im Berliner Landgericht, 66 Jahre, | |
stämmige Statur, dunkler Anzug, fusseliger Haarkranz um die Glatze. Den | |
"Gier-Apotheker vom Ku'damm" nennt ihn die Berliner Boulevardpresse. Um | |
fast 11 Millionen Euro soll er die Krankenkassen betrogen haben - in nur | |
zwei Jahren. Seine Helfer, das waren HIV-Infizierte aus der halben | |
Republik. Sie kamen in die "Kurfürstendamm Apotheke", weil sich | |
herumgesprochen hatte: Bei Hans-Joachim D. kann man Rezepte zu Geld machen. | |
Nur eine "gutmütige Geste" sei das gewesen, seufzt der Angeklagte. Er | |
klingt jetzt aufgewühlt. "Ich habe doch nie von mir aus diese Geschäfte | |
angeboten, die Leute haben mich darum gebeten. Die taten mir ein bisschen | |
leid!" Deshalb habe er sich "breitschlagen lassen". Das sei natürlich "ein | |
Fehler" gewesen, merkt er kurz an. Aber was sei ihm denn geblieben? | |
"Nüscht!" Die florierende Apotheke in bester Lage: pleite. Er selbst: seit | |
November im Knast. | |
"Wenn ich noch Geld hätte, dann hätte ich mir die Autos doch wiedergeholt!" | |
Eine knappe Stunde geht das so, es ist sein Geständnis. Die Justizbeamten | |
am Eingang zum Gerichtssaal feixen. Schließlich sagt die Vorsitzende | |
Richterin mit milder Stimme: "Gut, Herr D., ich glaube, wir haben das | |
verstanden." | |
## Verlockend einfach | |
Vermutlich wäre es nie so weit gekommen mit Hans-Joachim D. und seiner | |
Apotheke, hätte der Millionenbetrug nicht so verlockend einfach | |
funktioniert. | |
Die HIV-Patienten kamen oft gleich in der Früh um 8.30 Uhr, wenn der Chef | |
den Laden aufsperrte und die ersten Kunden des Tages persönlich in den | |
Verkaufsraum mit den antiken Apothekerschränken führte. Sie boten ihm | |
frische Rezepte an. Hans-Joachim D. nahm die Verordnungen, händigte den | |
Kranken aber keine Pillenschachteln aus. Trotzdem ließ er sich die | |
Medikamente von den Krankenkassen erstatten. Bei einem Wert von bis zu | |
3.000 Euro pro Rezept ein lukrativer Trick. Den Patienten schob D. als | |
Dankeschön ein paar hundert Euro in bar über den Tresen. | |
## Rezepte von HIV-Infizierten wurden zu Geld gemacht | |
Auch acht HIV-Positive stehen deshalb mit dem Apotheker vor Gericht. | |
Stammkunden, für die Hans-Joachim D. heute keinen Gruß mehr übrig hat. | |
Einige sind bereits vom Virus gezeichnet. So wie Christian H., 35 Jahre, | |
erkrankt an Aids und Krebs, sein Krückstock lehnt an der Anklagebank. | |
Als Polizeikommissar konnte er nicht mehr arbeiten, mit der monatlichen | |
Rente von 870 Euro kam er nicht hin. "Als ich nichts mehr zu essen hatte, | |
habe ich 2007 zum ersten Mal ein Rezept abgegeben und dafür Geld bekommen", | |
berichtet H. in seinem Geständnis. Er musste dafür nicht mal selbst zum | |
Kurfürstendamm fahren. Ein Mittelsmann sammelte Rezepte anderer | |
HIV-Infizierter ein, verkaufte sie - und reichte H. zwischen 100 und 450 | |
Euro pro Verordnung weiter. Zuweilen, berichtet der Angeklagte, habe sich | |
der Bekannte am Monatsende sogar per SMS erkundigt, "ob ich wieder Rezepte | |
für ihn habe". | |
Christian H. kassierte das Geld auf Kosten seiner Gesundheit. Mal habe er | |
die Medikamente genommen, mal nicht, sagt er, "je nach meiner | |
wirtschaftlichen Situation". Andere waren da cleverer, gingen einfach zu | |
verschiedenen Ärzten und ließen sich ihr Rezept mehrfach ausstellen. Dank | |
des Datenschutzes ein ziemlich sicherer Trick. Denn Ärzte können nicht | |
sehen, was Kollegen einem Patienten bereits verordnet haben. | |
Und wie sollen sie vom Behandlungszimmer aus feststellen, ob der Kranke | |
betrügen will? Michael L., 43 Jahre, erzählte seinem Arzt, er brauche wegen | |
einer Urlaubsreise die doppelte Dosis. Beim nächsten Termin bat er die | |
Sprechstundenhilfe: "Das Rezept bitte wieder so wie beim letzten Mal." | |
## Mehrfache Dosis für ein Rezept | |
Einem Arzt die mehrfache Dosis abzuschwatzen, scheint nicht besonders | |
schwierig. Rezept im Café vergessen, Rezept verloren, Rezept geklaut - oder | |
die Mama hat es mal wieder mitgewaschen. "Solche Begründungen hören wir | |
häufig", versichert Hans Wesselmann den Richtern. Sie haben den Internisten | |
der Berliner Charité als Zeugen geladen, denn einer der Angeklagten ist | |
sein Patient in der HIV-Ambulanz. | |
"Natürlich geht es hier um viel Geld, es sträubt einem die Haare. Aber was | |
will man machen?", fragt Wesselmann. Er könne nicht kontrollieren, ob der | |
Patient sein Rezept in der Apotheke eingelöst habe. Er müsse aber | |
verhindern, dass die Kranken ihre Tabletten unregelmäßig nehmen - weil | |
ihnen sonst gefährliche Resistenzen drohten. "Und wenn die Leute schon mit | |
Alkoholfahne zu uns kommen, dann bleiben die Rezepte auch mal in der U-Bahn | |
liegen." | |
Oder eben nicht. Fachleute vom Berliner Landeskriminalamt halten die | |
Betrügereien in der "Kurfürstendamm Apotheke" mitnichten für einen | |
Einzelfall. Die Masche sei "seit vielen Jahren" bekannt. Nur kann niemand | |
sagen, wie verbreitet sie wirklich ist. Denn die meisten Betrüger bleiben | |
vermutlich unerkannt. | |
Im Berliner LKA befassen sich spezialisierte Fahnder der Ermittlungsgruppe | |
"Medicus" mit Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen. Das Risiko, mit | |
illegalen Rezeptverkäufen aufzufliegen, halten sie für "sehr gering". Auch | |
Hans-Joachim D. wurde nur erwischt, weil die Barmer GEK einen Tipp bekam, | |
daraufhin gezielt Patientendaten überprüfte und schließlich Anzeige | |
erstattete. | |
## Nur schwer beweisbar | |
Gerade der Betrug mit HIV-Medikamenten gilt als besonders schwer beweisbar. | |
Jeder Kranke wird mit einem individuellen Pillenmix behandelt, die | |
Dosierung variiert extrem. "Wir können auf Basis unserer Daten nicht | |
beurteilen, ob der Patient eine oder zwei oder mehr Tabletten eines | |
Medikaments pro Tag braucht", sagt Michael Hamelmann, der die interne | |
Ermittlungsgruppe der Barmer GEK leitet. | |
Allerdings kann sich ein Kranker sogar das Vielfache der Jahresdosis eines | |
HIV-Präparats innerhalb weniger Monate verschreiben lassen, ohne dass die | |
Abrechnungssoftware seiner Kasse deshalb Alarm schlägt. Das Berliner LKA | |
wirft den Versicherern deshalb vor, sie hätten bis heute keine | |
"wirkungsvollen, EDV-gestützten Kontrollroutinen" eingeführt. Die | |
Krankenkassen hingegen verweisen auf gigantische Datenmengen, die sie | |
bewältigen müssen: Mehrere hundert Millionen Rezepte rechnen die Apotheken | |
in Deutschland pro Jahr ab. "Manipulationsbekämpfung funktioniert nicht | |
automatisch", sagt der hauseigene Ermittler der Barmer GEK. Tests hätten | |
gezeigt, dass Computerprogramme bei der Fahndung nach betrügerischen | |
Patienten schnell an Grenzen stoßen. | |
Unter Aidskranken jedoch muss die Verdienstmöglichkeit am Ku'damm längst | |
ein gut gelüftetes Geheimnis gewesen sein. Und glaubt man Hans-Joachim D., | |
dann wusste auch die Berliner Halbwelt bald Bescheid und erkannte ihre | |
Chance: Skrupellose Ganoven schröpften ihn, den Betrüger mit Herz. | |
Es sind wüste Szenen aus dem Apothekenalltag, die der Angeklagte den | |
Richtern skizziert. Im Frühjahr 2007 sei der erste Erpresser in seiner | |
Apotheke aufgekreuzt, ein Deutscher "mit Russen im Hintergrund", sagt D. | |
Der Mann habe 800 Euro verlangt - oder er werde den Rezeptbetrug anzeigen. | |
Wenig später hätten "Araber" an der Theke gestanden und Schweigegeld | |
gefordert. 2.000 Euro beim ersten Besuch, 3.000 beim zweiten. | |
Hans-Joachim D. tippt auf seinen Hemdkragen. "Der hat mir das Messer hier | |
an den Hals gehalten!" Bis Mitte 2009 habe er die arabischen Besucher immer | |
wieder mit Geld versorgt. "Was sollte ich denn machen? Ich war in einer | |
völligen Zwangslage." Auch von einem "Türken" und einem Taxifahrer namens | |
"Attila" sei er erpresst worden. Einem anderen Kriminellen habe er via | |
Western Union mehrere zehntausend Euro ins Ausland überwiesen. | |
## "Ein Trauerspiel" | |
"Ich hab mir das mal ausgerechnet: Pro Jahr habe ich etwa 250.000 Euro an | |
Verbrecher bezahlt!" Der Angeklagte schaut zu den Richtern auf. "Das ist | |
elend mit mir, ein Trauerspiel, dass es so weit gekommen ist!" Er wolle | |
wirklich nichts beschönigen, versichert Hans-Joachim D., "aber diese | |
Verbrecher, die haben mir den Rest gegeben". | |
Sieben bis neun Jahre Haft hat der 3. Große Strafsenat des Berliner | |
Landgerichts dem Apotheker in Aussicht gestellt - falls er umfassend | |
gesteht. Seine Verteidiger hoffen, noch ein Jahr weniger herauszuholen. Sie | |
zweifeln auch den Gesamtschaden als zu hoch an, den die Staatsanwaltschaft | |
errechnet hat. Ein Verdacht, den Hans-Joachim D. dem Gericht schon in | |
seiner ersten Stellungnahme unterbreitete: "Sehr dubios" seien einige | |
Zahlen in der seitenlangen Auflistung der angeblich falsch verbuchten | |
Medikamente. Genau kann er das zwar auch nicht belegen, aber ein paar | |
Millionen gingen wohl noch "runter von der Sache". | |
Seine Apotheke wird das nicht mehr retten. Hinter den schmalen, hohen | |
Schaufenstern vergilben Hustensaftschachteln zwischen künstlichem | |
Herbstlaub. Drinnen sind die Regale längst leer geräumt. Und an der Tür | |
klebt, handgeschrieben auf weißem Papier, eine letzte kleine Lüge: "Wegen | |
technischer Probleme heute geschlossen! Ihr Apothekenteam". | |
10 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Astrid Geisler | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Finanzüberschuss im Gesundheitswesen: Krankenkassen machen Kasse | |
Die gesetzlichen Krankenkassen fahren einen Milliardenüberschuss ein. Bis | |
jetzt haben sie trotzdem gejammert – und spielen nun die Ergebnisse | |
herunter. | |
Bestechung unter Ärzten: Flugreisen, Autos oder Bares | |
Wie oft bei Ärzten betrogen, bestochen oder falsch abgerechnet wird, können | |
die Ermittler der Kassen kaum abschätzen. Selten können sie wirklich etwas | |
tun. | |
Nach Schiedsspruch am Gericht: Apotheker müssen blechen | |
Das Berliner Sozialgericht kippt den Apothekenabschlag. Die gesetzlichen | |
Krankenkassen hoffen nun auf 320 Millionen Euro Mehreinnahmen – zu Lasten | |
der Apotheken. | |
Kampf um Apothekenabschlag: Wie die Kesselflicker | |
Wem gehen 320 Millionen Euro verloren? Apotheker und Kassen kämpfen seit | |
Jahren um den Apothekenabschlag. Jetzt befasst sich das Sozialgericht | |
Berlin damit. |