# taz.de -- Schule in Kolumbien: Unter mörderischen Bedingungen | |
> Nirgendwo auf der Welt ist Schule so gefährlich. Denn oft sind es die | |
> engagierten Lehrer, die in die Schusslinie von Paramilitärs, Guerillas | |
> und kriminellen Banden geraten. | |
Bild: Die Klassenzimmer in Kolumbien sind für 20 Kinder gebaut, oft drängeln … | |
BOGOTÁ taz | "Du könntest der Beste sein – warum versuchst Du es nicht" | |
steht in dicken Lettern an der Wand im Schulhof der Secundaria Manuela | |
Beltrán. Es ist große Pause und der Hof der weiterführenden Schule | |
proppenvoll mit Schülern zwischen zehn und siebzehn Jahren. Einige | |
unterhalten sich, andere rangeln, und William Carrillo sorgt hin und wieder | |
dafür, dass es weder bei Schülern noch bei Schülerinnen zu ernsthaften | |
Handgreiflichkeiten kommt. | |
Carrillo, ein 52-jähriger Mann mit Kinnbart und graumelierten kurzen | |
Haaren, ist einer der Lehrer, die heute Pausenaufsicht haben. | |
Handgreiflichkeiten zwischen Jungen, aber auch zwischen den Mädchen haben | |
an der Schule in Soacha in den letzten Jahren zugenommen. | |
Die Vorstadt im Süden Bogotás ist mit 1,2 Millionen Einwohnern ein | |
Auffangbecken für Zuwanderer aus allen Landesteilen. "Die Spannungen zu | |
Hause – sowohl in den Familien als auch den Stadtteilen – sind in der | |
Schule tagtäglich sichtbar", erklärt Carrillo. | |
Der Pädagoge hat gleich zwei Universitätsabschlüsse vorzuweisen und setzt | |
sich aktiv für seine Schüler ein: "Hier spiegeln sich die Probleme wider, | |
die die umliegenden Stadtviertel prägen: die Rekrutierung von Jugendlichen | |
durch Paramilitärs, die Aktivitäten der Banden, die viele Straßen | |
kontrollieren, und die Armut. Dagegen müssten wir viel mehr machen", sagt | |
der engagierte Pädagoge. | |
Dann ertönt die Klingel zum Unterricht und William Carrillo öffnet eine | |
Gittertür, die nach oben in die Klassenräume führt, und lässt Trauben von | |
uniformierten Schülern passieren. Als der erste Ansturm vorüber ist, weist | |
er den Weg zu seinem Klassenraum, dem Salón 302. In dem Raum, der einst für | |
20 Schüler konzipiert wurde, quetschen sich 45 Schüler, und ein einziger | |
schmaler Gang führt von einem Ende zum anderen. Vor der Tafel, die direkt | |
auf die unverputzte Backsteinwand montiert ist, sind ebenfalls noch zwei | |
Schritte Platz, damit sich William Carrillo zumindest drehen kann. | |
## Verwahren statt bilden | |
"So ist die Situation in den meisten Klassenräumen. Unsere Schule platzt | |
aus allen Nähten, und die Enge führt zu zusätzlichen Reibereien zwischen | |
den Schülern", erklärt Carrillo. Das bestätigt auch Schulpsychologe Enrique | |
Sánchez. Der Mann Ende vierzig muss beinahe täglich die Polizei rufen, um | |
besonders gewalttätige Teenager, Mädchen wie Jungen, abholen zu lassen. | |
"Die Enge an unserer Schule ist nur ein Faktor, denn die Kinder und | |
Jugendlichen wachsen mit Gewalt auf und setzen Gewalt folglich auch zur | |
Durchsetzung ihrer eigenen Interessen ein. Das ist hier im Stadtviertel | |
Despensa der Fall genauso wie weiter oben – in Altos de Cazucá." | |
Dort an den Berghängen, die die Hochebene von Bogotá umgeben, siedeln sich | |
die Neuankömmlinge an. Zumeist Flüchtlinge aus anderen Landesteilen, die | |
sich vor den bewaffneten Akteuren, Guerillas, Paramilitärs und der Armee, | |
in die vermeintliche Sicherheit der großen Städte retten. Altos de Cazucá | |
ist besonders verrufen, denn dort werden nicht nur Jugendliche rekrutiert, | |
sondern es gibt auch unzählige ungeklärte Fälle von Verschwundenen. Zudem | |
ist der zu Soacha gehörende Stadtteil für Armut und Perspektivlosigkeit | |
bekannt, so Schulpsychologe Sánchez. | |
Acht Jahre hat er dort an einer Schule gearbeitet, bevor er versetzt wurde. | |
"Hier ist die Situation zwar etwas besser, aber pädagogische Konzepte, wie | |
wir den Kids neue Perspektiven abseits der Jugendbanden und des | |
Drogenkonsums aufzuzeigen können, haben wir auch nicht", erklärt Enrique | |
Sánchez und legt missbilligend die Stirn in Falten. "Wir schmeißen die | |
Jugendlichen, die Banden angehören, aus der Schule, dann kommen sie zur | |
nächsten. Es ist ein Rundlauf durch die Schulen – bis sie gar nicht mehr | |
kommen", schildert er das Prozedere. | |
## "Logbuch für das Leben" | |
Eine echte Chance haben die wenigsten Kinder und Jugendlichen, die von oben | |
kommen, denn auch bei den anderen Schülern landen sie gleich in einer | |
Schublade, wie Erica Márquez bestätigt. "Ich habe mit niemanden von oben zu | |
tun – die sind mir zu brutal", erklärt die 16-Jährige lapidar. Ihr Vater | |
ist Buchhalter in Bogotá, und sie träumt davon, Umweltingenieurin zu | |
werden. "Eine Schwester von mir lebt in Argentinien, und ich hoffe entweder | |
dort oder hier mit einem Stipendium zu studieren", erklärt das zielstrebige | |
Mädchen, welches gemeinsam mit ihrer Freundin Daniela Avila in die Klasse | |
von Yaneth Díaz geht. | |
Diaz gehört zu den Lehrern, die versuchen, trotz aller Schwierigkeiten | |
Initiativen gegen die Gewalt an der Schule zu setzen. "Logbuch für das | |
Leben" heißt das Programm, an dem Erica und Daniela teilnehmen und das den | |
Schülern mehr Respekt und mehr Verständnis für ihre Mitschüler beibringen | |
soll. "Verbale Konfliktlösung, die Einbeziehung statt der in Kolumbien so | |
verbreiteten Ausgrenzung sind Teil unserer Strategie", erklärt die | |
Pädagogin, die seit sieben Jahren an der Schule unterrichtet. | |
Schulpsychologe Sánchez und der Kollege Carrillo zählen sie zu ihren | |
Unterstützern. | |
Längst nicht alle Kollegen engagieren sich für das Projekt. Die einen aus | |
Angst, weil brisante Probleme wie die Rekrutierung thematisiert werden, die | |
anderen, weil Aufwand und Entlohnung der Lehrer kaum mehr in einem | |
vernünftigen Verhältnis stehen. "Die jungen Kollegen erhalten gerade 1,2 | |
Millionen Peso (umgerechnet 460 Euro), haben kaum Aufstiegschancen und | |
erhalten keine längerfristigen Verträge und werden jedes Jahr aufs Neue | |
überprüft", schildert Yaneth Díaz die Verhältnisse. Das sei ein Ergebnis | |
der Reformen der letzten Jahre. "Die haben aus den Schulen reine | |
Verwahranstalten gemacht, wo der pädagogische Auftrag hintangestellt wird", | |
kritisiert William Carrillo. | |
## Im Fokus der Gewalt | |
Eine Einschätzung, die Schuldirektorin Angelica Barón so nicht teilt. Um | |
aber in Stadtteilen mit handfesten Problemen Initiativen zu starten, gibt | |
die Mittfünzigerin freimütig zu, fehle es an Ressourcen – "bei der | |
Ausstattung der Schulen und bei den Kreditprogrammen für Jugendliche, die | |
von den weiterführenden Schulen abgehen", erklärt sie, hinter ihr die | |
kolumbianische Fahne. | |
Geld ist allerdings nötig, um weiterzukommen, denn die meisten | |
kolumbianischen Universitäten und Fachhochschulen sind privat. Viele Kinder | |
aus der Mittel- und Oberschicht gehen zudem von vornherein an | |
Privatschulen. "Auch ein Grund, weshalb die Bildungspolitik nicht den | |
Stellenwert hat, den sie haben sollte", erklärt Camilo Castellanos, | |
Direktor von der Stiftung Bildung und Entwicklung (Fedes) in Bogotá. "Um | |
den Verhältnissen in armen Stadtteilen wie Soacha, Usme oder Ciudad Bolívar | |
gerecht zu werden, benötigen wir Ganztagsschulen, wo die Kinder und | |
Jugendlichen auch versorgt werden. Dafür gibt es jedoch keinen Etat", | |
schildert der ehemalige Lehrer die Problematik an Staatsschulen. | |
Staatliche Schulen sind deutlich schlechter ausgestattet als die privaten, | |
und engagierte Lehrer haben es dort gleich doppelt schwer. Nicht nur weil | |
sie sich gegen knappe Etats und überfüllte Klassen wehren müssen, sondern | |
weil sie es immer wieder mit der Spirale der Gewalt und der Rekrutierung | |
von Minderjährigen zu tun haben. "Das ist in Städten wie Soacha und Bogotá | |
schon nicht einfach, aber in ländlichen Regionen, wo Polizei und Armee oft | |
gar nicht präsent sind, überaus riskant", erklärt Bildungsexperte | |
Castellanos. | |
## 2010 wurden 28 Lehrer ermordet | |
Die nackten Zahlen geben Castellanos recht. 2010 wurden laut den Angaben | |
der nationalen Gewerkschaftsschule 28 organisierte Lehrer ermordet. "Lehrer | |
stehen", so Norberto Ríos Navarro, der wissenschaftliche Leiter der Schule | |
in Medellín, "im Fokus des Terrors, weil sie sich oft auf lokaler Ebene | |
engagieren." Und viele der rund 300.000 Lehrer in Kolumbien sind | |
gewerkschaftlich organisiert wie auch William Carrillo und seine Kollegin | |
Yaneth Díaz. | |
"Natürlich rede ich nicht mit jedem, wenn ich erfahre, dass einer meiner | |
Schüler von Paramilitärs angeworben werden soll. Allerdings muss man dann | |
helfen, mit den Eltern reden, schauen, ob man den Jungen oder das Mädchen | |
besser ein paar Wochen oder Monate woanders unterbringt", erklärt die | |
42-Jährige und nimmt die rot eingefasste Sonnenbrille ab. | |
Das gleiche Verfahren gilt auch, wenn ein Lehrer bedroht wird. So gibt es | |
in Soacha ein "Komitee der Bedrohten", dem normale Familienväter genauso | |
wie Lehrer, Gewerkschafter und der lokale Sekretär des Bildungsministeriums | |
angehören. Die treffen dann die nötigen Entscheidungen, um Lehrer oder | |
Schüler aus der Schusslinie zu bringen. In der Secundaria Manuela Beltrán | |
war das in letzter Zeit nicht der Fall. Auch ein Erfolg von Initiativen wie | |
dem "Logbuch des Lebens". | |
"Allerdings muss noch viel passieren, damit unsere Schüler die Losung auf | |
unserem Schulhof ernst nehmen", so Yaneth Díaz. Dort steht der Satz "Du | |
könntest der Beste sein – warum versuchst Du es nicht" an der Wand. Yaneth | |
Díaz schließt gerade die Gittertüren zum Hof auf. Gleich ertönt die Klingel | |
zur Pause, und sie hat Aufsicht an der Secundaria Manuela Beltrán. | |
13 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumbianische Justiz wird terrorisiert: Risikoberuf Richter | |
Morddrohungen und Attentate - die Ausübung des Richteramts in Kolumbien ist | |
lebensbedrohlich. Auch unter dem neuen Präsidenten werden Justizangehörige | |
ermordet. | |
Hohe Haftstrafe für Militär: Umdeklarierte Leichen in Kolumbien | |
Er ließ Zivilisten ermorden und gab sie als Guerilleros aus. Dafür wurde in | |
Kolumbien erstmals ein Offizier verurteilt. Die Staatsanwaltschaft | |
ermittelt in 2.000 Fällen. | |
Projekt gegen Kriminalität in Kolumbien: Die weißen Häuser von Siloé | |
Weiße Farbe gegen exzessive Gewalt: Diego, Carlos und Miguel streichen | |
Häuserwände an. So kämpfen sie gegen die Kriminalität in Cali, einer der | |
gefährlichsten Städte der Welt. |