# taz.de -- Marthalers Stück eröffnet Wiener Festwochen: Das Eis schmilzt nic… | |
> Die Inszenierung "+/- 0. Ein suppolares Basislager" eröffnete die Wiener | |
> Festwochen. Das Stück über die Globalisierung und Grönland weckte hohe | |
> Erwartungen. | |
Bild: Blau leuchtet die Bühne zum Start der Wiener Festwochen. | |
Über das Eigene zu sprechen ist oft leichter als über das Andere. "Als Anna | |
Viebrock und ich dann das erste Mal nach Kangerlussuaq, Ilulissat und Nuuk | |
fuhren, wurde mir klar, dass alle meine Vorstellungen und Bilder nicht der | |
grönländischen Wirklichkeit entsprachen; und doch überkam mich vom ersten | |
Moment an ein Gefühl der Befreiung und Ruhe, wie ich es selten erlebt | |
hatte." | |
Regisseur Christoph Marthaler war sich offensichtlich nicht ganz sicher, | |
wie das Publikum sein Interesse an Grönland und dessen Kulturtradition | |
interpretieren werde, und ließ zur Premiere auf den Wiener Festwochen | |
Handzettel verteilen. Er enthielt einen kleinen Prolog des Theatermeisters | |
über seine "Glückhafte Ankunft" in dieser rauen und ruhigen Welt, 250 | |
Kilometer südlich des nördlichen Polarkreises. | |
Wer sich mit "ursprünglichen" Kulturen beschäftigt, macht sich schnell | |
verdächtig. Gibt es doch eine Tradition, die sich mit Begriffen wie | |
"Gesellschaft für bedrohte Völker" verbindet und die eine eher zoologische | |
Mythologie des ethnisch reinen, guten und zu bewahrenden Ursprungsvolks | |
propagiert. Der gute Europäer, der die Kultur der edlen Wilden schützen, | |
ausstellen und konservieren will, ist dabei kaum besser als der | |
Kolonialist, der die Überlegenheit seiner Kultur verkündet und die andere | |
zur Anpassung und Unterwerfung zwingt. | |
Das ist "kein Abend über Grönland, sondern über eine Faszination", schreibt | |
Marthaler vorweg, um sich keinen falschen Erwartungen auszusetzen, die sich | |
aber dennoch quasi natürlich einstellen. Das konkrete Thema lässt sich | |
nicht wegabstrahieren, sofern man wie Marthaler und sein Team in der | |
grönländisch-dänischen Kolonial- und Kulturgeschichte wühlt. | |
Thematisch eine reichlich komplexe Ausgangslage also, die Marthaler in | |
seiner Festwocheninszenierung gewohnt musikalisch mit Franz Schubert | |
(Klassik), Procol Harum (Pop), Paul Kuhn (Schlager), Kasimir Meister/Josef | |
Reinhart (Volksmusik 1) oder Godmand Rasmussen/Kristen Poulsen (Volksmusik | |
2) angeht und collagiert. | |
## Glückhafte Ankunft | |
Chöre besingen sich auf Dänisch, Grönländisch, Deutsch oder | |
Schweizerdeutsch - in einer sehr schönen Szene weiblicherseits geleitet von | |
Bettina Stucky mit Gazzaalunq Qavigaaq und Nukaka Coster Waldau, | |
männlicherseits von Ueli Jäggi mit Raphael Clamer und Jürg Kienberger. So | |
weit, so gekonnt, so unterhaltsam und gut. Doch was passiert sonst? Die | |
Antwort ist nach gut zweieinviertel Stunden: reichlich wenig. | |
Marthaler war gerade bei den Inszenierungen der Wiener Festwochen in den | |
letzten Jahren immer ein Garant für textliche Zuspitzungen im Mix mit | |
ästhetischen Brechungen. Doch der produktive Clash von Dingen, die | |
angeblich nicht zusammengehören, von Theorie, Kritik, Zeitdiagnostik, Musen | |
und schönen Künsten (wie bei seinen Inszenierungen "Schutz vor der Zukunft" | |
oder "Riesenbutzbach") bleibt diesmal aus. Merkwürdig. "Ich hatte | |
ursprünglich vor, das Schauspielprogramm unter das Thema Wasser bzw. Klima | |
und Ressourcen zu stellen", sagte Stefanie Carp, Schauspieldirektorin der | |
Wiener Festwochen, in einem Beitrag für die Wiener Tageszeitung Der | |
Standard. | |
## Verliebt in Grönland | |
Carp ist eine enge Marthaler-Weggefährtin und war in den vergangenen Jahren | |
bei Marthaler-Inszenierungen zumeist für die Abteilung Text & Analyse | |
zuständig. Sie ließ durchblicken, dass diesmal die Dinge anders gekommen | |
sind, als sie sich dies als Leiterin und vor allem frühere | |
Marthaler-Dramaturgin wünscht. Christoph Marthaler habe sich "in Grönland, | |
den Ort und das Sujet, verliebt", sagte sie dem Standard und habe es | |
abgelehnt, "das Thema Klima in dieser Arbeit zentral zu machen". Muss er | |
vielleicht auch nicht, wenn die Arbeit ansonsten überzeugte. Tut sie aber | |
nicht. | |
Davon, dass Christoph Marthaler und sein Ensemble wochenlang in Grönland | |
und seiner 15.000 Einwohner zählenden Hauptstadt Nuuk lebten, arbeiteten | |
und recherchierten, merkte man wenig, oder es war schwer nachzuvollziehen. | |
Anna Viebrocks dort erarbeitete karges Turnhallen-Bühnenbild machte so viel | |
und so wenig Sinn wie das Integrieren dänischer Künstlerinnen mit echtem | |
grönländischem Hintergrund ins Ensemble. Über melancholisches Schwärmen, | |
Schwermut und unmittelbares Erfahren des grönländischen Gefühls geht | |
einerseits die künstlerische Distanz zum Sujet verloren, andererseits | |
regiert künstlerisch die Routine. Was sonst frei und frech, klingt so eher | |
harmlos und bieder. Trotz aller gelungenen Einzelbilder und musikalischen | |
Verknüpfungen von Beethoven zu hawaiianisch anmutendem Sound bleibt unklar, | |
worauf das Ganze zielt. | |
## Dänische Kolonisierung Grönlands | |
Das Aneinandervorbeireden in verschiedenen Sprachen, Dänisch, Grönländisch | |
oder Deutsch, oder das berührungslose Spiel, vor einen | |
gutmenschlich-romantisch angehauchten Inuit-Hintergrund kann auch platt | |
wirken. Ein eingesprochener Gesetzestext aus der Zeit der dänischen | |
Kolonialisierung Grönlands, was sollte er in Wien sagen? Geht es wieder mal | |
um die so schnell wie einfach konstruierte Einbahnstraße namens "Aktualität | |
des Kolonialismus", um etwas skurriles Tapetenmaterial aus der Geschichte? | |
"Viele würden nicht wissen, dass und vor allem wie sie kolonialisiert | |
wurden", zitiert die Autorin Anna Kim in ihrem Essay "Invasion des | |
Privaten" eine Frau namens Julie in Nuuk. Kims 2011 erschienenes Buch wird | |
als eine der Quellen von "+/- 0" genannt. "Und ohne dass sie es merkten, | |
setzt sich die koloniale Situation fort", behauptet Kim und sagt: "Dass | |
Kolonialmächte, Gewinnermächte Geschichte schreiben, ist wohl bekannt, und | |
es gibt immer Kollaborateure." Oh je, so wird es ja ganz sicher sein. | |
Dabei ist auch Marthalers Produktion ein Versuch, die Globalisierung und | |
das Hybride mit aufzunehmen, anstatt sie einfach abzuweisen. Für Grönland | |
und die heute 50.000 Grönländerinnen dürfte es schließlich keine Frage | |
sein, dass sie zu dem größeren Staatenverbund Dänemark und damit auch zur | |
Europäischen Union gehören. | |
Schon Karl May wusste, dass unterschiedliche Kulturtraditionen nicht im | |
Widerspruch zu einer gemeinsamen politischen Ordnung stehen. Um welchen | |
Inuit-Mythos Marthalers Inszenierung kreiste, es war an diesem Abend beim | |
besten Willen schwer nachzuvollziehen. Die zwecks Ironisierung | |
ineinanderverschachtelten schweizerischen oder grönländischen Volksweisen | |
mit klassischer Musik sind unter der Leitung von Rosemary Hardy und Bendix | |
Dethleffsen ästhetische Verführung und ideologische Nebelmaschine zugleich. | |
Führen die guten Dänen nicht gerade wieder Grenzkontrollen ein? | |
## Es ist kalt in Grönland | |
Auch ein anderes angekündigtes Thema des Abends verpuffte. Es ist die | |
Schauspielerin Sasha Rau, die in einer Szene auf eine Tafel schreibt: | |
"World Climate Summit - March 15th, 2150. Alfred Döblin". Dick vermummt, es | |
ist kalt in Grönland, liest Bettina Stucky Passagen aus Alfred Döblins | |
"Berge Meere und Giganten". Döblins Buch ist ein gewaltiger Roman, ein | |
literarisch-utopisches Manifest, 1924 erstveröffentlicht. Es entstand nach | |
dem Ersten Weltkrieg und in Reflexion dessen, was der Mensch der Natur und | |
die Natur dem Menschen anzutun vermag. | |
Döblins apokalyptischer, bildgewaltig expressionistischer Sience-Fiction | |
inszeniert eine industrialisierte Menschheit, die auf Gaswolken um den | |
Erdball rast. Technik, Fortschrittswille und Zerstörung gebären einen | |
Zustand zwischen Wollust und alles verschlingenden, vom Menschen erweckten | |
und nicht beherrschbaren Naturgewalten und Ungeheuern. "Man hatte nicht | |
geruht. Die Insel gab ihre Glut her. Die Schleier wurden gefüllt. Die | |
schrecklichen Turmaline strahlten und sangen", so Döblin. Nach den | |
Verheerungen des "uralischen Krieges" soll eine Flotte nach Grönland | |
aufbrechen, die Insel enteisen und kolonisieren. Nichts ist dem Menschen | |
heilig, alles macht er sich untertan - und bezahlt dafür massenhaft mit | |
seinem Leben. | |
Bei der Lektüre des visionären historischen Stoffs drängen sich Bezüge zur | |
aktuellen Diskussion nach Tsunami und Kernschmelze in Japan geradezu auf. | |
Doch auch davon ist in "+/- 0" nichts zu finden. Würde einer der | |
Schauspieler nicht die Döblin-Passagen in einen relativ einfachen | |
Sinnzusammenhang einordnen ("die globale Erderwärmung wird Grönland die | |
Unabhängigkeit bringen"), man wüsste nicht, was der gute alte Berliner | |
Schriftsteller in der Inszenierung soll. | |
Das komplexe Mensch-Maschinen-Thema Döblins ist bei Marthaler reduziert auf | |
den körperlosen Menschen, eine knarzende Stimme, die durch einen am | |
Bühnenboden liegenden Lautsprecher tönt, durch die der entfremdete Mann mit | |
der entfremdeten Frau, der Kolonialherr mit der Kolonialisierten spricht. | |
Ein lustiger Effekt, aber in Anbetracht der selbst gestellten Aufgabe ("+/- | |
0. Ein subpolares Basislager") zu wenig. | |
Auch wenn die groteske Lautsprecherstimme eine tatsächlich herzergreifende | |
Procol-Harum-Version des Lieds "A Whiter Shade of Pale" in die Wiener | |
Bühnennacht wimmert, bevor sie gegen Ende des Stücks Selbstmord begeht. | |
Vielleicht wollte diese Produktion einfach zu viel: gut sein zu sich und zu | |
den authentischen Grönländerinnen; sie war aber zu nah dran, auch mit der | |
Vorpremiere in Nuuk, um noch einmal mit aller gebotenen Härte gegen | |
Routine, Nettigkeit und Tümeleien anzugehen. | |
16 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
## TAGS | |
Christoph Marthaler | |
Christoph Marthaler | |
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