# taz.de -- Nahles verteidigt Sarrazin-Verfahren: Zwischen Pest und Cholera | |
> Die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles diskutiert mit der Parteibasis in | |
> Berlin-Kreuzberg über Sarrazin. Die Stimmung ist freundlich, aber | |
> verzweifelt. | |
Bild: Verteidigt die Sarrazin-Entscheidung: Andrea Nahles. | |
Sie wird nicht geschont. Ein wegen Thilo Sarrazin aus der Partei | |
ausgetretener Ex-SPDler konfrontiert Andrea Nahles mit der Erinnerung "an | |
die Genossinnen und Genossen, die in den Konzentrationslagern der Nazis | |
gestorben sind - wie mein Großvater!" Da kämpft die SPD-Generalsekretärin | |
mit den Tränen. | |
Dabei hat sie ein Geschenk mitgebracht, ein Stoffbärchen: Ein Kreuzberger | |
Genosse, Muharrem Aras, Kandidat für die Abgeordnetenhauswahl, ist tags | |
zuvor Vater geworden. Ela heißt seine Tochter, Ella die von Nahles: Ein | |
kleiner Unterschied zwischen deutsch- und nicht deutschstämmigen Sozis. | |
Gut 50 Mitglieder und Ex-Mitglieder der SPD sind am Dienstagabend zur | |
Debatte mit der Generalsekretärin ins Kreuzbergmuseum gekommen. Thema: Der | |
missglückte Parteiausschluss von Thilo Sarrazin. Eingeladen hatte der | |
SPD-Kreis Friedrichshain-Kreuzberg. | |
Aus dessen Reihen stammt auch die "Berliner Erklärung", in der fast 4.000 | |
SPD-Mitglieder das Scheitern des Parteiausschlussverfahren kritisieren und | |
sich bei all denen entschuldigen, die durch Sarrazin "verletzt oder | |
enttäuscht" wurden. Das vom SPD-Bundesvorsitzenden Sigmar Gabriel und | |
Nahles selbst angestoßene Verfahren war im April mit einer Einigung statt | |
eines Ausschlusses des rassistischen Bestsellerautors beendet worden. | |
Klare Fronten also. Die Stimmung bleibt zwar freundlich, doch die | |
Verzweiflung der Kreuzberger SozialdemokratInnen steht so schwarz im Raum | |
wie die Regenwolken am Himmel über Berlin. | |
"Die Kinder Israels vermehren sich in Berlin genauso heftig wie einst in | |
Ägypten", zitiert der ausgetretene Sozialdemokrat aus Sarrazins Buch | |
"Deutschland schafft sich ab": "Die Araber und Türken haben einen zwei- bis | |
dreimal höheren Anteil an Geburten, als es ihrem Bevölkerungsanteil | |
entspricht." Das sei eindeutig rassistisch, so der Ex-Sozi: "Dass Sarrazin | |
in der Partei bleiben darf, verbittert mich. Wofür habe ich die ganzen | |
Jahre in der SPD gekämpft?" Sarrazin betrachte das Judentum als genetisch | |
verankert, ergänzt ein anderer: Das sei eine klare rassistische Theorie "in | |
der Tradition des 3. Reichs". | |
## "Ihr müsst das ausbaden" | |
Sie sei der Einladung nach Kreuzberg gern gefolgt, sagt Andrea Nahles den | |
GenossInnen: "Hier leben viele Menschen, die das verletzt, was Sarrazin | |
sagt. Und Ihr müsst das ausbaden." Und es gebe für sie gar keinen Zweifel | |
daran, dass Sarrazins Thesen rassistisch seien: "Wir haben in unserer | |
Begründung für den Ausschlussantrag nachgewiesen, wie nahe er an den | |
Rassegesetzen der Nazis ist. Wir haben nicht bloß mit Wattebäuschchen | |
geworfen!" | |
Doch politische Begründungen allein hätten eben nicht gereicht, ergänzt | |
Nahles: Ein Mitglied müsse der Partei zudem "schweren Schaden zugefügt" | |
haben, damit es zum Ausschluss komme. Das habe die Schiedskommission im | |
Falle Sarrazin nicht erkennen können. Die Einigung und die damit verbundene | |
Erklärung Sarrazins, in der es unter anderem heißt, es habe ihm fern | |
gelegen, in seinem Buch "Gruppen, insbesondere Migranten, zu | |
diskriminieren", sei deshalb für sie "die vernünftigste Entscheidung | |
zwischen Pest und Cholera" gewesen, so Nahles. | |
Bei den Mitgliedern seines Bezirks sei die Stimmung eindeutig, erzählt Jan | |
Stöß. "Diese Entscheidung ist nicht okay", sagt der SPD-Kreisvorsitzende. | |
"Gut, dass du taff genug bist, Dich der Debatte hier zu stellen." Am Himmel | |
draußen ergießen die schwarzen Wolken ihren Inhalt über das | |
Kreuzbergmuseum, fester Regen prasselt mittlerweile laut auf die schrägen | |
Fenster im Dachgeschoss. | |
Nahles Erklärung stellt die Kreuzberger GenossInnen nicht zufrieden. Nicht | |
nur der Partei, sondern der Sozialdemokratie insgesamt habe Sarrazin doch | |
schweren Schaden zugefügt, sagt einer: "Mir ist egal, ob die Partei in den | |
nächsten fünf Jahren keine Wahl gewinnt. Aber wenn Zustimmung für | |
rechtsextremes Gedankengut in der Gesellschaft wächst, hat die SPD dazu | |
beigetragen!" | |
Sie könne ihm nicht widersprechen, sagt Nahles. Inhaltlich habe die Partei | |
Sarrazins Thesen jedoch immer klar zurückgewiesen. Es gebe aber eben auch | |
Zustimmung bei den BürgerInnen: "Wir alle hier kämpfen seit Jahren gegen | |
rechtsextreme Ressentiments." Doch die SPD kämpfe um Bevölkerungsgruppen, | |
die sich in Konkurrenz zueinander und teils eben auch zu MigrantInnen | |
sähen. "Wir wollen da für Zusammenhalt sorgen", so Nahles. | |
## Zu wenig Ideologie, zu viele Umfragewerte | |
Auch das sehen die KreuzbergerInnen anders: Sie bezweifle, dass wirklich | |
viele in der Partei Sarrazin zustimmten, sagt eine: "Wer Probleme bei der | |
Integration von MigrantInnen sieht, ist noch lange nicht einer Meinung mit | |
ihm!" Der vermeintliche Zusammenhalt führe stattdessen zur Profillosigkeit | |
der SPD. Er sei selbst Migrant und habe "seit Sarrazin zum ersten Mal Angst | |
in dieser Gesellschaft", sagt ein anderer: "Wir sind in der Partei | |
ideologisch nicht mehr gefestigt. Statt an Themen zu arbeiten, richten wir | |
uns nach Umfragewerten. Dabei verlieren wir Stimmen, weil wir für nichts | |
mehr stehen!" | |
Bei Ahmet Iyidirli, Mitglied im Kreisvorstand der SPD | |
Friedrichshain-Kreuzberg und im Arbeitskreis Migration der Bundes-SPD, | |
klingt das noch schärfer: Seine Partei habe "kein klares antirassistisches | |
Profil", sagt er. "Hätten wir eins, hätten wir das Sarrazin-Problem | |
leichter lösen können." Und er sehe "auch nach der Sarrazin-Blamage keine | |
Ansätze, das Thema anzugehen", so Iyidirli: "Die Hälfte meiner eigenen | |
Erfahrungen mit Rassismus habe ich in der Partei gemacht!" Das dürfe in | |
einer sozialdemokratischen Partei nicht passieren. | |
Andrea Nahles wird nachdenklich. Draußen durchbricht die Abendsonne die | |
grauen Wolken mit goldenem Licht. Sie habe gemeinsam mit Sigmar Gabriel | |
2009 eine SPD "mit 23 Prozent" übernommen, schwach "wie ein wundes Reh! Wir | |
hatten das Gefühl, Wunden heilen zu müssen." Doch vielleicht sei nun der | |
Zeitpunkt, Positionen, Profile "auch mit Streit" zu klären: "Das müssen wir | |
dann aber eben auch aushalten können!" Wer in der Partei Rassismus erlebe, | |
solle sich direkt an sie wenden, sagt sie zum Schluss. | |
Vor der Tür des Museums scheint plötzlich die Sonne. Sie habe sich fest | |
vorgenommen, sich von Sarrazin künftig nicht mehr ärgern zu lassen, sagt | |
eine Kreuzberger SPDlerin tapfer. Und geht. | |
18 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
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