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# taz.de -- Reform des Gesundheitssystems: Der Kassensturz
> Seit 1970 ist die Zahl der Krankenkassen von 1.815 auf 155 geschrumpft.
> Bislang konnte keine Reform der letzten Jahre das System sanieren.
Bild: Krankenkassen in der Krise. Gibt es einen Ausweg?
BERLIN taz | Ein Zwerg macht dicht, und plötzlich regiert die Hysterie
Deutschlands Krankenkassen: Die Barmer GEK, eine der größten am Markt,
schließt mehrere Kundencenter in Hamburg, damit kein Mitglied der
insolventen City BKK mehr einen Aufnahmeantrag stellen kann. Andere Kassen
wie die AOK wimmeln Neukunden ab, indem sie sie zu Geschäftsstellen an den
Stadtrand schicken, oder sie lügen, über 80-Jährige würden generell nicht
aufgenommen. In Berlin weigert sich eine Ärztin, einen
City-BKK-Versicherten zu behandeln - aus Angst, ihr Honorar nicht zu
bekommen.
Neukunden sind lästige Kostenfaktoren. Das war die Botschaft der Kassen
diese Woche an 168.000 hilfesuchende Menschen, genauer: an Mitglieder der
insolventen City BKK, die meisten alt und krank, sprich teuer, zudem
konzentriert auf die medizinischen Hochpreisregionen Berlin und Hamburg.
Ihr Rechtsanspruch auf Aufnahme in eine Kasse ihrer Wahl nach der Pleite
ihrer bisherigen Versicherung wurde negiert - von Kassen, die gesetzlich
zur Solidarität verpflichtet sind. Warum?
Fusionen, Schließungen, Marktkonzentrationen - über Jahrzehnte galten sie
als so gewöhnlich wie das System der gesetzlichen Krankenversicherung
selbst. Erinnert sich jemand noch an die Buchdrucker-Krankenkasse? Oder an
die Neptun? Die Brühler? Sie alle verschwanden, geschluckt von
finanzkräftigeren Playern, ohne öffentlichen Aufschrei. Oder die BKK
Airbus, die Betriebskrankenkasse des Flugzeugbauers: Sie bat 2004 aufgrund
drohender Finanznöte selbst um ihre Auflösung. 45.000 Airbus-Mitglieder
suchten sich daraufhin eine neue Versicherung. Geräuschlos.
Denn für Versicherte ändert sich, abgesehen vom Namen, nach einer
Abwicklung wenig: Der medizinische Leistungskatalog ist gesetzlich
festgelegt für alle Kassen. Überdies gilt Versicherungspflicht bei freier
Kassenwahl: Jeder entscheidet selbst, bei wem er sich versichert,
Abweisungen wegen des Alters oder etwaiger Krankheiten sind unzulässig.
Und so würde es auch bei der City BKK laufen, glaubte das
Bundesversicherungsamt (BVA) in Bonn, Aufsichtsbehörde der meisten
gesetzlichen Krankenversicherungen, als es Anfang Mai die Insolvenz der
seit Jahren kriselnden City BKK bekannt gab und ihre Schließung zum 1. Juli
verfügte. Stattdessen bedurfte es eines Machtworts des neuen
Gesundheitsministers Daniel Bahr (FDP) via Bild. Der Androhung von
Sanktionen durch das BVA. Sowie der Intervention von Deutschlands oberster
Kassenverbandschefin Doris Pfeiffer. Dann erst wurde gestern endlich eine
kassenübergreifende Task-Force eingerichtet, um eine weitere Eskalation zu
verhindern. Die Kassen wollen nunmehr das Gesetz respektieren.
## Ausufernde Ausgaben
Ausgestanden ist die Krise der Kassen damit nicht. Vor allem das
psychologische Moment wiegt schwer: "Früher sprachen wir von Schließung,
heute von Pleite", sagt ein BVA-Sprecher. Seit 1970 ist die Zahl der Kassen
von 1.815 auf 155 heute geschrumpft. Die Verunsicherung ist auch deswegen
so groß, weil klar wird: Wettbewerbsstärkungsgesetz, Gesundheitsfonds,
Beitragsdeckelung: keiner Reform der letzten Jahre ist es gelungen, die
ausufernden Ausgaben im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen - zu
Lasten der Versicherten.
Gerade erst war der gesetzliche Beitragssatz auf 15,5 Prozent erhöht
worden, da verbreitete der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen zu
Wochenanfang die Hiobsbotschaft, Zusatzbeiträge könnten schon 2013 zur
Regel werden. Und zwar in Höhe von 50 oder 70 Euro - monatlich. Bislang
waren Zusatzbeiträge die Ausnahme und mit 8 bis 15 Euro pro Monat eher
moderat.
Der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach (SPD) prognostiziert unterdessen für
die kommenden zwei Jahre jeweils 5 Milliarden Euro Mehrkosten für die
Kassen. Wie viel eigentlich noch, fragen sich viele. Zu Tausenden kündigen
sie ihren Kassen ihre jahrelange Treue und damit die Planungssicherheit
auf. Und wechseln zu Kassen, die - noch - keine Zusatzbeiträge erheben. Die
Wutversicherten, auch sie sind ein Novum.
Ein Kampf ums Geld und um Versicherte ist so entbrannt in einer Schärfe,
die innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung bislang unbekannt war.
Die City BKK mit ihrer Mitgliederzahl und -struktur ist zwar untypisch für
die Mehrzahl der Kassen, weswegen Gesundheitsökonomen und Kassenchefs weder
einen Dominoeffekt noch massenhaftes Kassensterben prognostizieren. Und
doch zeigt der Fall der City BKK, wer künftig noch überleben wird. Und wer
nicht.
Die erste Hürde ist der Gesundheitsfonds, 2007 eingeführt von Union und
SPD. Sämtliche Versichertenbeiträge, von Arbeitgebern wie von
Arbeitnehmern, fließen seither nicht mehr direkt zur jeweiligen
Krankenkasse, sondern in einen zentralen Topf. Aus ihm erhält jede Kasse
sodann Zuweisungen für ihre Gesundheitsleistungen und Verwaltungskosten.
Das Problem: Die Zuweisungen berücksichtigen nicht wirtschaftliche
Boomzeiten - Mehreinnahmen aufgrund steigender Gehälter bleiben als Reserve
im Fonds. Zudem entspricht ihre Höhe den bundesdurchschnittlichen Kosten,
oft aber nicht den tatsächlichen.
## Teurer Therapiebedarf
Hat eine Kasse - wie die City BKK - das Pech, dass ihre Versicherten vor
allem in Großstädten wohnen mit hoher und kostspieliger Krankenhaus-,
Facharzt- und Spezialmedizingerätedichte (die selbstverständlich alle
überdurchschnittlich häufig genutzt werden), dann bleibt sie unweigerlich
auf einem Teil der Kosten sitzen. "Es wird künftig darauf ankommen, den
Kassenzuschnitt durch Übernahmen oder Fusionen so zu gestalten, dass der
Mix von Land und Stadt gewährleistet ist", sagt ein Kassenvertreter. Dass
das auch die großen Player betrifft, zeigen die Fusion der Marktriesen
Barmer und GEK 2010 und der Zusammenschluss von AOK Mecklenburg-Vorpommern
und AOK Berlin-Brandenburg 2011.
In Finanznot geraten bevorzugt Kassen, deren Mitgliederzahl weit unter der
1-Million-Marke liegt, ab der eine Kasse erst als potenziell wirtschaftlich
gilt. Bereits wenige Versicherte mit teuren Therapiebedarfen - Bluter
beispielsweise, deren jährliche Behandlungskosten je nach Schwere der
Erkrankung zwischen einigen zehntausend und zwei Millionen Euro schwanken -
können ihre Existenz gefährden. Denn auch hier wird nur der Durchschnitt
erstattet. Zuletzt strauchelte deswegen die Gemeinsame Betriebskrankenkasse
Köln (GBK). Gerettet wurde sie Ende 2010 dank einer Fusion mit der mhPlus
BKK.
"Fälle wie die der Bluter müssen über einen gesonderten Hochrisikofonds
ausgeglichen werden", appelliert der DAK-Chef Herbert Rebscher an den
Gesetzgeber. Doch der schiebt lieber, wie der gesundheitspolitische
Sprecher der Union im Bundestag, Jens Spahn, den Schwarzen Peter weiter:
"Da sollten eher die Gesundheitssenatoren in Berlin und Hamburg ihre
Hausaufgaben machen und die Zahl der Krankenhausbetten runterfahren",
findet Spahn. "Die machens nämlich teuer." Philosophisch halten es die
Akteure im Gesundheitswesen mit Sartre: Die Hölle, das sind die anderen.
Für einige Krankheiten immerhin gibt es den sogenannten
morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich. Die zumindest theoretisch
bestechende Idee hinter dem Wortungetüm: Wer eine hohe Zahl chronisch
kranker, kostenintensiver Patienten versichert, soll dafür nicht bestraft
werden. Kassen mit vielen gesunden Mitgliedern müssen den Ausgleich
finanzieren. Doch der Katalog ist auf 80 Krankheiten beschränkt - eine
politische Willkür, die das Gesundheitsministerium derzeit durch einen
eigens eingerichteten wissenschaftlichen Beirat überprüfen lässt.
Bis dahin gilt: Wer mit dem zugewiesenen Geld nicht auskommt, der muss
entweder bei der Verwaltung sparen, Mitarbeiter entlassen oder
Geschäftsstellen schließen. Was zu Lasten älterer Versicherter geht. Denn
die finden sich ohne persönliche Betreuer häufig nicht zurecht im
Paragrafendschungel, wenn sie etwa einen Rollstuhl beantragen müssen.
Kassen, die ihren Mitgliedern Service bieten und trotzdem liquide bleiben
wollen, machten in der Vergangenheit immer neue Schulden am Kapitalmarkt.
Eine Insolvenz war so zwar quasi unmöglich, doch die Verschuldung
unbefriedigend. Seit 2010 sind den Kassen Kreditaufnahmen untersagt.
Als Ausweg erhob die DAK 2010 als eine der Ersten Zusatzbeiträge von 8
Euro. Der Vorteil: Anders als die einkommensabhängigen Beiträge fließen die
Zusatzbeiträge nicht in den Gesundheitsfonds, sondern direkt zu den Kassen.
Diese Lösung schien der Kasse bequemer, als sich anzulegen mit den eigenen
Vorständen und deren sechsstelligen Gehältern - oder gar mit der Lobby von
Krankenhäusern, Ärzten, Medizingeräte- oder Pharmaherstellern, deren
Vergütung und Honorare sicher auch Einsparpotenzial geboten hätten.
Der Schuss ging nach hinten los: Gesunde, Junge und Gutverdiener, also
diejenigen, die das Überleben einer Kasse sichern, verließen die DAK - zehn
Prozent ihrer Mitglieder hat die Kasse binnen eines Jahres verloren. Für
die City BKK erwies sich der Zusatzbeitrag von 15 Euro als Todesstoß:
20.000 Mitglieder von einst knapp 190.000 verließen die Kasse im ersten
Quartal 2011. "Erst wenn alle Kassen den Zusatzbeitrag erheben, wird dieser
Erosionsprozess gestoppt", mutmaßt eine Brancheninsiderin.
Der Bundesverband der BKKen hingegen wirbt für frühzeitige Fusionen.
Gleichgültig könne es keiner Kasse sein, wenn eine Konkurrentin in Not
gerate: Für die Pleite der City BKK beispielsweise müssen jetzt die übrigen
BKKen einstehen. Sie tragen nicht nur die Schließungskosten von etwa 150
Millionen Euro, sondern auch etwaige unbezahlte Behandlungskosten.
20 May 2011
## AUTOREN
Heike Haarhoff
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