# taz.de -- Krieg in Libyen: "Das ist ein Todesurteil" | |
> Ins größte Krankenhaus im libyschen Bengasi werden täglich neue Opfer von | |
> Vergewaltigungen gebracht. Viele sind mit Aids infiziert. | |
Bild: Befreit, aber von Gräueln nicht verschont: Blick aufs Meer aus Bengasi. | |
Frauen, die ihre Angehörigen verpflegen wollen, Frauen, deren Taschen von | |
Obst, Sandwichs und hartgekochten Eiern überquellen, unrasierte alte | |
Männer, Ambulanzfahrzeuge von der Front - sie alle müssen an der Schwester | |
vorbei, die in einer Portiersloge am Eingang von Bengasis | |
Jumhurija-Hospital thront. | |
Nach ein paar Fragen werden die Betreffenden normalerweise durchgewunken. | |
Bei unserem Begehr meint die Diensthabende nicht recht zu hören. Ihre mit | |
Khol umschminkten Augen verengen sich zu Schlitzen: Wie bitte? Was soll es | |
hier geben? - "Eine Station, auf der diejenigen behandelt werden, die vor | |
rund vier Wochen von Gaddafis Truppen vergewaltigt wurden. Es geht darum, | |
mit Ärzten zu sprechen, Zahlen und Fakten zu dokumentieren und …" | |
Ehe der Satz zu Ende gesprochen ist, winkt sie ab. Ausgeschlossen. | |
Undenkbar. Sie blickt sich um, ob noch andere die Frage gehört haben. | |
"Gehen Sie weg, am besten schnell." | |
Seit die Rebellion gegen Gaddafi zu einem Krieg geworden ist, erheben die | |
Aufständischen den Vorwurf organisierter Massenvergewaltigungen. Kämpfer | |
berichten immer wieder, bei Milizionären Viagra gefunden zu haben. | |
Verpackungen des Mittels sind wie Trophäen neben den erbeuteten Waffen auf | |
dem Platz vor dem Gerichtsgebäude von Bengasi ausgestellt. Im Fernsehsender | |
CNN meldete sich exklusiv die Frau zu Wort, die vor einigen Wochen in einem | |
Hotel in Tripolis die internationale Presse alarmierte und erzählte, wie | |
sie von mehreren Gaddafi-Soldaten vergewaltigt worden sei. | |
## Gerüchte | |
Rechtfertigt das alles den Vorwurf, gezielter, organisierter | |
Vergewaltigungen, der Vergewaltigung als Kriegswaffe? Der internationale | |
Strafgerichtshof in Den Haag sammelt zurzeit Beweise. Verwertbare | |
Ergebnisse, heißt es, liegen noch nicht vor. Immer wieder hatten wir | |
versucht, in und um Bengasi Spuren nachzugehen. An Gerüchten herrscht kein | |
Mangel. Sobald man die betroffenen Familien aufsuchen will, heißt es in der | |
Regel: weggezogen. | |
Vielleicht wohnt noch ein entfernter Onkel, ein Cousin, eine Tante in dem | |
Viertel. Nachbarn wollen von Nachbarn gehört haben. In Krankenhäusern | |
sollen Ärzte etwas erzählt haben. Sie könnten Einzelheiten nennen … | |
Sollten. Müssten. Könnten. Organisierte Massenvergewaltigungen sind ein | |
schwerer Vorwurf, eine der schwersten Anschuldigungen, die im Krieg erhoben | |
werden können. | |
Uns geht es nur um einen einzigen Fall. | |
## Geisterstadt | |
Adschdabija gleicht einer Geisterstadt: Zerstörungen an vielen Häusern, | |
Löcher in den Fassaden, ausgebrannte Fahrzeugwracks, vor den Geschäften an | |
den großen Straßen sind die Läden heruntergelassen. Die Front liegt nur ein | |
paar Kilometer weiter westlich, in der Nachbarstadt Brega. Nur wenige haben | |
sich in ihre Häuser zurückgewagt. Zu ihnen gehört Abdelkrim al-Senoussi. | |
Der 70-Jährige trägt eine blütenweiße Toga. Um seinen Kopf hat er einen | |
Turban geschlungen. Mit steifem Oberkörper sitzt er auf dem Stuhl, beide | |
Fäuste auf den Knauf eines Stocks gestützt. Seine Lider bleiben halb | |
geschlossen. Dass er aufgeregt ist, verrät nur sein hastiger Atem. | |
Er ist nicht irgendwer, sondern in Adschdabija ein bekannter Mann. Einst | |
Polizeioffizier in Diensten des Regimes. Von seinen 30 Kindern gehörte ein | |
Sohn sogar zu Gaddafis Personenschützern. Wenn sich jemand in der | |
umkämpften Stadt vor den einrückenden Truppen des Machthabers sicher fühlen | |
konnte, dann Abdelkrim al-Senoussi. Dachte er. | |
Aber an diesem Tag vor etwa acht Wochen, als Gaddafis Söldner die Stadt von | |
den Aufständischen zurückeroberten, brachen sie in sein Haus ein, stahlen | |
sein Geld, nahmen einen erwachsenen Sohn und zwei seiner Töchter mit, die | |
eine, Khadija*, 26, ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder und wohnte mit | |
ihrem Ehemann in einem eigenen Bereich des großen Hauses. Die andere | |
Hassana*, 22, noch ledig. | |
Der Sohn und die jüngere Tochter konnten fliehen und auf Umwegen nach Hause | |
zurückkehren, ins von den Aufständischen zurückeroberte Adschdabija. Die | |
ältere, verheiratete Tochter ist bis heute verschwunden, samt ihrer beiden | |
kleinen Kinder. Was ist mit der Tochter, die zurückkam? "Nicht mehr hier", | |
sagt Senoussi knapp. "In Bengasi." Mehr Einzelheiten möchte er nicht | |
nennen. Jeder in der Stadt weiß ohnehin, was ihm passiert ist, da kommt es | |
nicht mehr darauf an, so hatte er gedacht. Besser sogar, wenn die Presse, | |
wenn die ganze Welt erfährt, was Gaddafi, sein ehemaliger Chef, für eine | |
Art von Mensch ist. Doch jetzt setzt der ehemalige Polizeikommandeur sich | |
wieder auf seinen Stuhl, umfasst den Stock mit beiden Fäusten, lässt den | |
Kopf sinken und fängt an zu weinen, in hohen langgezogenen Tönen wie ein | |
Kind. | |
## Im Krankenhaus | |
Vergewaltigungsopfer - die seien entweder in Bengasi im Jumhurija-Hospital | |
oder in der neuen Klinik, so hatten Kämpfer aus Adschdabija gemeint. Das | |
"1.200-Betten-Hospital", wie es im Volksmund heißt, ist das größte | |
Krankenhaus der Stadt - nach langer Bauzeit gerade fertig geworden, von | |
französischen Firmen hochgezogen, noch im Auftrag des Gaddafi-Regimes. | |
Zahlreiche Gebäude und Nebengebäude machen die Anlage zu einer eigenen | |
Stadt - einer blitzsauberen, aseptischen Raumstation. Lautlos | |
aufschwingende Türen, Fahrstühle … das Ganze ist so unübersichtlich, dass | |
niemand uns den Einlass verwehrt. | |
Die erste Schwester, die uns auf dem Flur der Frauenabteilung | |
entgegenkommt, Ende 20, dezent geschminkt, mit Kopftuch, einen Packen | |
Papiere unter dem Arm, kennt Abdelkrim al-Senoussis Tochter. "Fälle wie | |
ihren behalten wir einige Tage hier, manchmal auch Wochen. Wir machen die | |
ersten Untersuchungen und bestätigen aus medizinischer Sicht, was geschehen | |
ist." | |
Kann man über Hassanas Fall hinaus etwas über ähnliche Fälle erfahren? Sie | |
überlegt, zögert lange, in ihren Augen spiegelt sich die Angst. Dann stimmt | |
sie zu. Unter der Bedingung, dass die Ärzte nichts davon mitbekommen. | |
"Vergewaltigung", erläutert sie, während wir zu ihrer Station gehen, "ist | |
in Libyen ein Todesurteil". Die Frauen können nicht mehr heiraten, sie | |
bleiben allein, ihre Familien müssen aus der Nachbarschaft wegziehen. Für | |
die Gesellschaft spielt es keine Rolle, ob man einverstanden war oder | |
gezwungen wurde. Sobald Ärzte oder Pflegerinnen Auskunft geben, werden sie | |
gleich von zwei Seiten bedroht: von den Familien der Opfer und von den | |
Gaddafi-Spitzeln, die alle Informationen über die Vergewaltigungen | |
unterbinden wollen. Zwei ihrer Patientinnen, die offenbar zu viel von den | |
Einzelheiten erzählt hatten, wurden aus dem Krankenhaus entführt und sind | |
bis jetzt verschwunden. | |
Die junge Schwester gibt uns Plastiküberzüge für die Haare und die Schuhe | |
und nimmt uns mit in die Abteilung, in der Blutanalysen gemacht werden. | |
"Weiter als bis dahin kann ich Sie nicht bringen." | |
Vergewaltigte Frauen werden seit Anfang März in ihre Station eingeliefert, | |
berichtet sie, während wir im Labor zwischen Reagenzgläsern und Retorten | |
stehen; täglich kämen neue Fälle aus dem belagerten Misurata dazu. Aus | |
Adschdabija allein 73. | |
## Bluttests | |
Im Fall von Hassana al-Senoussi braucht sie keine Karteikarte | |
hervorzuziehen, sie kennt den Fall. "Hassana ist schwanger. Und sie hat | |
auch Aids." Ist sie da sicher? Von Aids-Fällen war im Zusammenhang mit den | |
Vergewaltigungen bisher nichts berichtet worden. Die junge Schwester nickt. | |
"Ich bin für die Analysen zuständig, ich nehme eigenhändig die Bluttests | |
vor. Hassana ist nicht die Einzige. Von den rund hundert vergewaltigten | |
Frauen auf dieser Station sind etwa vierzig nach den Übergriffen gegen sie | |
mit Aids infiziert." | |
Wie reagieren die Betroffenen und ihre Familien? "Hassana al-Senoussi | |
trifft im Augenblick die Vorkehrungen zur Abtreibung. Ich hoffe, sie wird | |
das Leben durchhalten, das ihr bevorsteht. Ich versuche die Frauen immer zu | |
trösten, ich sage immer: Ihr seid noch jung, die Zukunft wird es richten, | |
aber meistens nützt das nichts." | |
Vergewaltigungen im Krieg, erläutert sie, das ist ein Phänomen, mit dem die | |
Gesellschaft im Maghreb bisher nie zu tun gehabt hat. Es gibt keine | |
Konzepte, keine organisierte Hilfe, um die Betroffenen aufzufangen, das | |
Problem ist schlichtweg nicht definiert, es hilft nur das Verschweigen, das | |
Verschwinden oder der Tod. "Deshalb setzt Gaddafi meiner Überzeugung nach | |
dieses Mittel als Kriegswaffe ein. Er weiß, dass er unsere Menschen, unsere | |
Gesellschaft damit tödlich treffen und vernichten kann. Und deshalb", setzt | |
sie hinzu, "spreche ich zu Ihnen über diese Fälle. Ich will, dass alle | |
erfahren, was hier passiert." | |
Hört sie anschließend noch irgendetwas von den Patientinnen? Sie nickt. | |
"Bouchra Bennour* war drei Wochen lang bei uns, bis vor kurzem noch. Ebenso | |
Asa Bousalam* und Hafsa al-Hayett*. Alle drei haben sich nach der | |
Entlassung aufgehängt." | |
22 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Marc Thörner | |
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