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# taz.de -- Abschluss des Berliner Theatertreffens: Der wilde Kern der Theaterk…
> Seht her, welche Energie: Mit Christoph Schlingensiefs "Via Intolleranza
> II" geht am Montag ein sehr reiches Berliner Theatertreffen zu Ende.
Bild: Das Theatertreffen mit "Via Intolleranza II" enden zu lassen ist mehr als…
BERLIN taz | Es gibt so viele Motive, Theater zu spielen. Das
Theatertreffen 2011 in Berlin ließ einiges davon sehen: sich am Versagen
einer Stadt zu reiben und lustvoll ihre Pleiten zu begleiten (Schauspiel
Köln, "Ein Sturz"); Anerkennung einer Identität einzuklagen, die im
Einwanderungsland Deutschland noch immer als Problem der anderen
marginalisiert wird, statt sich damit als Produkt der eigenen Geschichte
auseinanderzusetzen (Ballhaus Naunynstraße, "Verrücktes Blut"); die Sprache
eines Klassikers beinahe bruchlos mit dem Gefühlshaushalt der Gegenwart zu
synchronisieren (Schauspiel Dresden, "Don Carlos"); den Zuschauer am
Schlafittchen seiner Amüsierwilligkeit in finstere Abgründe zu führen (die
Inszenierungen von Herbert Fritsch aus Oberhausen und Schwerin); und
schließlich von einer Flucht vor sich selbst zu erzählen und der
Beinahe-Ankunft in einem ganz anderen Kontext, nämlich in Burkino Faso, wie
in der letzten Inszenierung des Theatertreffens, "Via Intolleranza II" von
Christoph Schlingensief.
Die Ausweitung der Spielzone tat dem Theatertreffen gut. Schon bei der
Nominierung war die Erleichterung zu spüren, neuen Akteuren zu begegnen,
auch freie Produktionen (zweimal von Kampnagel Hamburg mitgetragen) und
kleinere Stadttheater beteiligt zu sehen. Selbst das Publikum wirkte
erneuert, noch nie fragten so oft Ortsunkundige nach dem Weg zum Haus der
Berliner Festspiele.
Die Volksbühne Berlin, vor zehn Jahren das hipste Theater der Republik,
spielt zurzeit keine große Rolle mehr. Sie hat aber den Schutzraum geboten,
in dem sowohl Herbert Fritsch wie Christoph Schlingensief den wilden Kern
ihrer Kunst keimen lassen konnten. Fritsch hat den nun in die Provinz
getragen und einen neuen Funken daraus geschlagen, der all die Vorurteile
gegenüber dem Provinztheater, von Anachronismus und Armut über den Hang zum
Ranschmeißerischen bis zum Zwang, Unterhaltung um jeden Preis bieten zu
müssen, aufnimmt und so maßlos in die Affirmation treibt, bis es böse wird.
Sein Theater zerrt die Leute vom Fernseher weg mit dem Versprechen, deren
Comedy- und Slapstickformate noch zu toppen. Dennoch hat er auch von der
Stilisierung eines Robert Wilson und der Beschleunigung eines Michael
Thalheimer im Umgang mit den Klassikern gelernt. Eine Synthese, wie man sie
nur mit viel Erfahrung hinkriegen kann.
## Essayistische Zugriffe
Wenn das Theatertreffen heute zu Ende geht, mit Christophs Schlingensiefs
"Via Intolleranza II", ist das mehr als eine nachträgliche Abschiedsgeste
an den im August 2010 gestorbenen Regisseur. Mehr, weil die Performance mit
zehn Darstellern aus Burkino Faso, Stellvertreter für das Operndorf, dessen
Bau Schlingensief initiiert hat, den Blick geografisch weitet und vor
diesem Hintergrund auch die Frage, wer wir eigentlich sind, neu verhandelt.
Mehr aber auch, weil damit die Lücke, die er hinterlässt, so sichtbar wird.
Niemandem sonst gelingt so ein essayistischer Zugriff auf ein Thema.
In Monologen des Regisseurs, den jetzt Stefan Kolosko spielt, wird das
Verhältnis Europas zu Afrika auf einen Punkt gebracht: Wir, die selbst
Geschädigten, die sich selbst nicht helfen können, suchen jetzt andere,
denen wir helfen können, um von der eigenen Nabelschau wegzukommen. Wie,
bitte schön, soll das denn funktionieren? Der Zweifel, mit dem der
Regisseur seinen eigenen Enthusiasmus kommentiert, wurde 2010 noch bestärkt
von geophysikalischen Vorgängen: Die Künstler aus Burkino Faso konnten,
weil ein Vulkan in Island ausgebrochen war, nicht rechtzeitig zu den Proben
nach Deutschland kommen.
Wie dennoch ein Teil von ihnen seinen eigenen Raum in der Collage des
Abends erhält, der Rap von Abdoul Kader Traore, die wütende Komik von Amado
Komi, der ob seiner Kleinheit immer mit einem Kind verwechselt wird und zum
Objekt von Beschützerinstinkten, wie sie dem Hunger nach Echtheit unter
lauter falschen Bildern einerseits entgegenkommen, andererseits in ihren
Texten aber auch das Ambivalente dieses Wunsches herausstellen, gehört zu
den Wundern dieses Abends.
Ihr Französisch, von einem Dolmetscher oder in Übertitel übersetzt, legt
sich über Schlingensiefs Monologe oder die Briefe des mitorganisierenden
Goethe-Instituts. Über viele Szenen schichten sich Filmbilder, auf dünne
Vorhänge projiziert, voller Engel und anderer Wesen aus dem Jenseits, aus
einem Stummfilm nach Dantes "Inferno". Die Bilder sind ein Vorschein des
Todes, der während der Produktion den schwerkranken Regisseur bedrohte. Sie
sind zugleich Repräsentanten jener weißen Geistesgeschichte und
Ausdruckstradition, in die durch Nachahmung einzutreten für die Schwarzen
keinen Sinn macht, wie einige Slapstick-Szenen beweisen. Das Flackern und
Flimmern des Films bezeugt aber auch die Vergänglichkeit der Kunst selbst.
Von diesem letzten Abend aus lassen sich Bögen zu den vorher gesehenen
Inszenierungen schlagen. Man kann zum Beispiel Schlingensief und Nurkan
Erpulat als die beiden Regisseure sehen, die sich neuen Herausforderungen
an die Identität des Deutschseins stellen. Schlingensief verließ dafür
Europa, Erpulat taucht in "Verrücktes Blut" in den Mikrokosmos eines
Klassenzimmers ein. Er bearbeitet die Vorurteile, Projektionen und
Selbstethnifizierungen, die junge Deutsche mit Familien aus den
Einwanderergenerationen treffen, mit einem pointen- und fintenreichen
Theater, das auch ein neues Volkstheater sein möchte. Manchmal wirkt das
naiv. Aber er hat damit, wie die vielen Einladungen des Stücks zeigen, eben
einen Nerv getroffen, eine Leerstelle gefüllt, für die es bisher kaum
Angebote gibt.
## Kathrin Rögglas Vampire
Der Hunger nach dem Echten und das Leiden an Erfahrungen aus zweiter Hand
verbindet Schlingensief aber auch mit Fritschs Inszenierung von Ibsens
"Nora" und Kathrin Rögglas Stück "Die Beteiligten", das Stefan Bachmann am
Wiener Burgtheater inszeniert hat. Wie Vampire hängen nämlich die
nachtschattengrau geschminkten Männer in "Nora" an der zu Niedlichkeit und
Sexyness verdammten Protagonistin, als fänden sie nur bei ihr zum Leben
zurück.
Wie Vampire hängen auch die "Beteiligten" an einer Phantomgestalt, einem
Rotkäppchen des Medienzeitalters, einem verschleppten Kind. Über die
Teilhabe an dessen grausamer Geschichte wollen sie sich selbst eine
sinnvolle Existenz zurechtschneidern, als Therapeutin, als Journalist, als
Freundin, als Berater - aber die Figur, die ihnen Sinn geben soll, entzieht
sich ihnen. Die Rache der "Beteiligten" ist die gnadenlose Besetzung des
verschwundenen Mädchens mit Redefiguren, die aus Verständnis Bedrohung
machen, aus Beratung diktatorische Zuschreibung. Dass ihnen eine
Geschichte, die sie vermarkten wollen, vorenthalten wird, treibt sie immer
mehr in die Raserei.
Kathrin Rögglas Text ist sperrig, das Sichnähren von der Fiktion des Lebens
eines anderen stellt sie in indirekter Rede aus. Der Regisseur Stefan
Bachmann hat ihrem Text einerseits sehr beklemmende Texte und Bilder
hinzugefügt, die vom Leiden des Mädchens bei ihrem Entführer und von
Rotkäppchen im Bauch des Wolfes erzählen. Der Weg über das Märchen hilft
der Vorstellungskraft dabei über das hinweg, was man sich auch nicht
vorstellen will. Andererseits treibt er die Empörung über den
vorenthaltenen Skandal in sehr formalen Spielanordnungen auf die Spitze. Da
sitzen die "Beteiligten" eng zusammen, schauen Chips essend fern und
synchronisieren mit unbewegter Mine die grausamen Texte der Monster, die
das unsichtbare Mädchen überfallen.
Es war ein Festival der ungleichen Größen, das Schlauchboote mit
Hilfsmotor, wie das Ballhaus aus Berlin-Kreuzberg, zwischen die großen
Dampfer schickte, wie die Theater aus Wien, Zürich und Köln, und die
mittelgroßen, die aus Dresden, Schwerin und Oberhausen kamen. Aber gerade
deshalb wirkte das Programm reich. Die Applausordnungen, mit denen Herbert
Fritsch seine Inszenierungen beendet, suggerieren, dass das Theater sich
wie eine Spieluhr immer weiter dreht und auch, wenn wir nicht hinschauen,
das Stück weitergeht, womöglich für Gespenster. Ein ähnliches Bild erzeugte
das Theatertreffen selbst: Als öffneten sich mit den eingeladenen Stücken
zehn Fenster, die sehen ließen, was sich im deutschsprachigen Theaterraum
hinter fünf bis sechsmal so vielen Fenstern beinahe Abend für Abend
abspielt. Das hatte die Anmutung eines vitalen Existenzbeweises: Seht her,
welche Energie.
23 May 2011
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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