# taz.de -- Marx-Kongress in Berlin: Ein Elend der Philosophie | |
> Am Wochenende ging es an der Humboldt-Universität Berlin um die | |
> Aktualität von Marx. Die Differenzen, die sich im Rückgang auf Marx | |
> zeigten, waren groß. | |
Bild: Jaeggi wurde 2009 zur ersten Professorin für Philosophie an der Humboldt… | |
BERLIN taz | Den einen Marx gibt es nicht. Wie es auch den einen | |
Kapitalismus nicht gibt. Möchte man aber den Grund finden, von dem aus alle | |
avancierte Theorie im Anschluss an Marx argumentiert, so wäre es die | |
Annahme, dass wir es sind, die alles machen. | |
Das, so würde der italienische Neomarxist Toni Negri sagen, ist der | |
Materialismus der Freiheit, den uns nur die sozialen Kämpfe lehren, nicht | |
die Philosophie. Und das nicht nur deshalb nicht, weil die Philosophie, wie | |
das Hegel schrieb, wie die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden | |
Dämmerung ihren Flug beginnt. | |
Die Philosophie oder besser die akademische Philosophie tut immer noch | |
gerne so, als hätte sie Zugriff auf den echten Marx. Nicht, weil sie sich | |
völlig zu Recht um die sogenannte historische Last des Leninismus und | |
Stalinismus nicht schert. Das ist nicht ihre Aufgabe. Aber schon die | |
Vorstellung, man könne einen Marx völlig jenseits theoriepolitischer | |
Frontstellungen ausgraben, wie die Organisatorin des Marx-Kongresses | |
"Re-thinking Marx" Rahel Jaeggi es am Wochenende wünschte, ist eine | |
Illusion, auf die glücklicherweise der österreichische Philosoph Oliver | |
Marchart in seinem Panel hinwies. Denn wir können nur durch eine bestimmte | |
Debattenstruktur hindurch auf Marx schauen, so Marchart, in der wie uns | |
immer schon irgendwo verorten. | |
## "Verschiedene Aktualitäten" zusammenbringen | |
Fünfzig Vortragende waren von Freitag bis Sonntag an der | |
Humboldt-Universität zusammengekommen, allesamt Professoren oder angehende | |
Professoren, um über Marx zu sprechen. Darunter international bekannte | |
Leute wie der Althusser-Schüler und -Mitarbeiter Etienne Balibar aus Paris, | |
die Soziologin Saskia Sassen aus New York sowie die Philosophin Nina Power | |
aus London. | |
Ein Thema hatte der Kongress nicht. Der Wunsch der Organisatoren war es, | |
"verschiedene Aktualitäten" der Marxschen Theorie zusammenzubringen. Was da | |
vordergründig so gar nicht nach der Suche nach dem einen Marx, sondern wie | |
der korrekte Wunsch nach Offenheit im Diskurs klingt, ließ sich auch als | |
Beliebigkeit deuten, unter der schließlich die akademistische Marxologie so | |
richtig zum Blühen kam. Und so hatte jeder Referent seine ganz eigene | |
Fragestellung mitgebracht, was gar nicht weiter schlimm war, weil es | |
ohnehin kaum Raum für Diskussionen gab, obwohl die großen Abendpanels drei | |
Stunden dauerten. | |
Die Professoren verlasen ihre Vorträge, einer nach dem anderen, die vielen | |
Lauschenden, die meisten Studenten, kannten das bereits aus ihren | |
Proseminaren, alle schwitzten. Saskia Sassen sprach über Marx | |
Internationalismus im Zusammenhang mit Globalisierung und die Politologin | |
Wendy Brown gestikulierte heftig zu einem Referat über Warenfetischismus | |
und Verdinglichung, die sie gerade erst bei Marx entdeckt zu haben schien. | |
Etienne Balibar wiederholte seine These vom Primat der Kämpfe über das | |
Konstituierte und hätte daher gerne die Bilder der Proteste auf der Plaza | |
Mayor in Madrid hinter sich projiziert gesehen, während der US-Historiker | |
Moishe Postone demgegenüber an der wertkritischen Ausrichtung Marxscher | |
Theorie festhielt. | |
## Suche nach politischer Ontologie | |
Und somit war man, ohne dass es eine direkte Auseinandersetzung gegeben | |
hätte, freilich schon mittendrin in der theoriepolitischen Frage, ob man | |
der Ökonomie oder der Politik die Vorrangstellung einräumt. Die kleineren | |
Nachmittagspanels, deren Organisation einzelne Wissenschaftler übernommen | |
hatten, erlaubten es schon eher, dieser Fragen in einer Diskussion | |
nachzugehen. | |
Der Idee, durch einen radikalen Bruch aus der Geschichte aussteigen zu | |
können, für die gegenwärtig der prominente Name Slavoj Zizek steht, | |
verfolgte hier zu Recht niemand. Demgegenüber ging es, wie der Frankfurter | |
Dozent für politische Philosophie Martin Saar ausführte, eher um die Suche | |
nach einer politischen Ontologie, die danach fragt, in welcher Form Marx | |
über Gesellschaft nachdenkt, oder um die Privilegierung des Politischen | |
oder auch postmarxistisch um eine "minimale Politik", die Formen des | |
Aktivismus nicht im Angesicht eines dämonisierten Kapitalismus schmähen | |
muss. | |
Die Differenzen, die sich im Rückgang auf Marx zeigten, waren groß. Aber | |
das belegt zunächst nur, dass es den einen und authentischen Marx nicht zu | |
entdecken gibt. | |
23 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
Tania Martini | |
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Schwerpunkt Stadtland | |
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