# taz.de -- 33. Evangelischer Kirchentag: Antiintellektuelle suchen "Kuschelgot… | |
> "Ich bemühe mich, polemisch zu sein", sagt der evangelische Theologe | |
> Friedrich Wilhelm Graf. Vor dem 33. Evangelischen Kirchentag wirft er den | |
> Kirchen Verkindlichung und Verfilzung vor. | |
Bild: Das Dresdner Elbufer im Zeichen des Kreuzes. | |
taz: Herr Graf, gibt es Schöneres, als "Herr Professor Dr. Besserwisser" | |
genannt zu werden? | |
Friedrich Wilhelm Graf: Ja, aber Titulierungen wie diese muss man sportlich | |
nehmen. | |
Auch wenn diese Spitze aus einem Artikel Petra Bahrs stammt, der | |
Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland? | |
Petra Bahr hat schon einmal stärkere Texte geschrieben. | |
Dennoch: Hat Sie deren Anwurf verletzt? | |
Nein. Wer austeilt, muss auch einstecken können, das gehört zu den Spielen | |
der Kultur und auch der Kirchenpolitik. | |
Die möglicherweise nächste Bischöfin Hamburgs schrieb: "Graf findet die | |
verfasste Kirche zum K…" Wir fragen: Hat Sie denn Recht? | |
Überhaupt nicht. Ich beschreibe ja eher Fehlentwicklungen und weise | |
zugleich auf bestimmte positive Dinge hin. | |
Die Wortwahl Bahrs ist erstaunlich, nicht wahr? | |
Fand ich auch. | |
Zeigt die Wortwahl nicht auch Verwundungen in der Führung der Evangelischen | |
Kirche, wenn man einen solchen Ton anschlägt? | |
Vor allem zeigt es die Verunsicherung, die herrscht. Niemand kann die | |
Krisenphänomene der Kirche wegdiskutieren. Es ist dann immer leichter, den | |
Kritiker anzugreifen, als sich mit Inhalten auseinanderzusetzen. | |
Ihre jüngst veröffentlichte Streitschrift "Kirchendämmerung" könne man, so | |
Petra Bahr, so zusammenfassen: "Die evangelische Kirche schafft sich selber | |
ab." Ist das tatsächlich Ihr Befund? | |
Die evangelische Kirche hat offenkundig erhebliche Probleme, traditionelle | |
protestantische Milieus wahrzunehmen. Sie tut sich sehr schwer damit, auf | |
bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren. Und sie hat sich | |
einen Reformprozess verordnet, der zum Teil mit illusorischen Zielen | |
operiert. | |
Welche Illusionen haben Sie im Blick | |
Die Formel des früheren EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber, | |
"Wachsen gegen den Trend", ist eine der Illusionen, die ich meine. | |
Sonst beschreiben Sie ja Bischof Huber, ähnlich wie bei Kardinal Lehmann | |
für seine katholische Kirche, als einen der wenigen, die die gute Tradition | |
Ihrer Kirche, des Protestantismus, verkörperten. | |
Genau, wir erleben leider bei den kirchlichen Funktionseliten so etwas wie | |
Prozesse der Entintellektualisierung, der Entakademisierung. Es gibt nur | |
noch sehr wenige führende Geistliche beider Kirchen, die überhaupt | |
argumentativ auf bestimmte Probleme reagieren können. | |
Schon vor Jahren haben Sie der evangelischen Kirche "einen fatalen Hang zum | |
Antiintellektualismus" attestiert. Nennen Sie uns ein Beispiel? | |
Bei jungen Pfarrerinnen und Pfarrern finden Sie in aller Regel eher einen | |
emotionsbetonten Umgang mit religiösen Texten. Es gibt leider den | |
Pfarrertypus, der sagt: Mit dem Ende des Studiums brauche ich keine Bücher | |
mehr anzuschauen. Und mancher Pfarrer ist stolz darauf, dass er keine | |
überregional verbreitete Tageszeitung liest. | |
Woher rührt der von Ihnen gesehene Antiintellektualismus? | |
Wir hatten in den Kirchen in den späten sechziger, dann in den siebziger | |
und achtziger Jahren diese Politisierungswellen, Stichwort: | |
Friedensbewegung, frühe Ökologiebewegung. Und wir haben dann in den späten | |
achtziger und in den neunziger Jahren einen eigentümlichen Einzug von | |
Esoterikreligion oder Kuschelfrömmigkeit. | |
Und Sie kritisieren eine Neigung der zeitgenössischen Kirche und ihrer | |
Mitglieder, nur noch einem "Kuschelgott" zu huldigen. | |
In der Tat, der hat fröhlich Einzug gehalten. In der akademischen Theologie | |
haben sich massive Spezialisierungstendenzen durchgesetzt. Es lässt sich | |
auch im Studium beobachten, dass viele auf eine entschieden rationale, | |
intellektuell anspruchsvolle Theologie eher mit Abwehrgestus reagieren. | |
Sie sprechen gar von der Infantilisierung des Christlichen - ist das nicht | |
ein wenig schroff? | |
Infantilisierung bezieht sich darauf, dass man sich durch einen gewissen | |
Sprachstil mancher Pfarrer nicht richtig ernst genommen fühlt, ja, dass man | |
sich ein Stück weit entmündigt fühlt. | |
Sie monieren die Bildungsferne vieler Ihrer Studentinnen und Studenten. | |
Fehlt es denen eventuell auch an Sprachgewalt? | |
Zum Teil haben wir faszinierende junge Studierende, die sprachlich extrem | |
gut sind, die mit dem Abitur auch schon auf eine bemerkenswerte | |
internationale Biografie zurückblicken können. Und dann gibt es andere, die | |
sich mit Sprache sehr, sehr schwer tun. Manche Studierende haben erhebliche | |
Probleme, eine Seminararbeit zu verfassen. | |
Sie beklagen obendrein die "Feminisierung" des Protestantismus. Sie sind | |
kein verkappter Frauenfeind, oder? | |
Im Gegenteil. Ich bemühe mich gezielt um Frauenförderung. Übrigens: | |
Hauptfachstudierende in der evangelischen Theologie sind inzwischen | |
mehrheitlich weiblich. Wir haben Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen, wo | |
die Vikarinnen und Pfarrerinnen es auf einen Anteil von etwa 60 Prozent | |
bringen. | |
Ist das nicht positiv? | |
Sogar wunderbar. Dem entspricht aber keine angemessene Repräsentanz von | |
Frauen in Leitungsfunktionen der Kirche. Seit dem Rücktritt von Frau | |
Käßmann und Frau Jepsen haben wir nur noch eine Landesbischöfin. | |
Woran liegt denn der geringe Frauenanteil? | |
Kurz: Dass die Kirchen sehr stark verfilzte Organisationen mit stark | |
versteinerten Strukturen sind. Da gibt es durchaus Netzwerke. | |
Kirchens bräuchte eine Quote? | |
Meiner Wahrnehmung nach helfen Quoten klugen Frauen nicht. Das Problem ist, | |
dass wir leider viele kluge Frauen wie Männer verlieren. Kirche wird von | |
ihnen nicht mehr als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen. | |
Etliche meinen: Mehr Frauen in der Kirche bedeutet auch eine menschlichere | |
Kirche. | |
Mehr Menschlichkeit ist immer schön. Aber ich sehe nicht, dass die Frau als | |
solche ein Mehr an Humanität repräsentiert. | |
Anders herum: Menschelt die Kirche heute nicht viel zu stark? Braucht sie | |
wieder den fordernden, strengen Gott? | |
Leider hat sich eine Kultur der Distanzlosigkeit breit gemacht hat. Das | |
macht auch den Umgang mit Konflikten nicht leichter. | |
Die Führungsstrategien etwa von Margot Käßmann liefen Ihnen offenbar | |
ziemlich zuwider, weil sie gerade dieses Emotionale und Persönliche immer | |
sehr bedient hat. | |
Margot Käßmann ist ein religionskulturelles Phänomen von hoher | |
Faszinationskraft. Man muss erklären, warum sie für so viele Deutsche und | |
vor allem viele Frauen in Deutschland gleichsam eine Art Ikone geworden | |
ist. | |
Bitte sehr! | |
Sie ist ein Mensch, in dessen Problemen andere sich wiederfinden können. | |
Sie hat sehr viel von sich selbst gesprochen. Von ihren Lebenskrisen, von | |
ihren Zweifeln, von ihren Ängsten, von ihrem Versagen ihren Töchtern | |
gegenüber. | |
Und vom Scheitern ihrer Ehe. | |
Tatsache ist, dass man erklären muss, warum ihre Bücher gleichsam | |
selbstverständlich auf der Bestsellerliste landen. Ich bewundere, wie sie | |
die Menschen anspricht. | |
Aber? | |
Mir war es dann oft des Authentischen zu viel. Ich hätte mir an manchen | |
Punkten etwas mehr an Nachdenklichkeit und auch an theologischem Gehalt | |
gewünscht. | |
Sie war ja ein paar Monate in den USA und hat flugs ein Buch über diese | |
Zeit geschrieben. | |
Wer einmal das Bestsellerschreiben angefangen hat, gerät unter | |
Erwartungsdruck. Der Weg, ins Ausland zu gehen, war gewiss für eine Zeit | |
der Reflektion der richtige. Warum sie dann gleich dieses Buch geschrieben | |
hat? Ich finde nicht, dass man hier sehr viel lesen kann, um die USA besser | |
zu verstehen. | |
Sie haben Käßmann nach ihrem Rücktritt Narzissmus vorgeworfen. | |
Zu dieser Kritik stehe ich. | |
Damit macht man sich aber Feinde. | |
Ich bemühe mich, polemisch zu sein. Aber zugleich fair in dieser Polemik zu | |
bleiben. | |
Auch mit dem Satz "Der Markt hat seine eigene ethische Dignität" | |
provozieren Sie in evangelischen Kreisen. Fehlte nur noch, dass Sie sich | |
für die Atomkraft aussprechen. | |
Beim Thema Atomkraft machen wir es uns zurzeit eine Spur zu leicht. Dass | |
wir derzeit Atomstrom produzieren und importieren, ist keine ethisch | |
überzeugende Position. Es gibt zuweilen die sehr deutsche Neigung zu | |
moralischen Superioritätsgesten - und das passt mir am Stil der | |
Ausstiegsdebatte nicht. Wollen Sie nun einen flammenden Appell gegen die | |
Atomkraft hören? | |
Wie dem auch sei: Immerhin gibt es ja einen evangelischen Vertreter in der | |
Ethikkommission zur Energiewende. Die Frage ist nur, was der da verloren | |
hat. | |
Für den hastig beschlossenen Ausstieg braucht man Legitimität. Die | |
Kommission ist da ein Legitimitätsbeschaffungsorgan. Da sind eben die | |
Kirchen dabei. Sie sind überhaupt immer gern dabei. | |
Der Protestantismus habe es mit der Politisierung übertrieben, sagen Sie - | |
steckt noch zu viel von den siebziger, achtziger Jahren in der | |
Evangelischen Kirche? | |
Es steckt in der Evangelischen Kirche jedenfalls die Neigung, sich zu allem | |
und jedem zu Wort zu melden. Das ist nicht klug. Moralisieren ist leider | |
ein relativ anspruchsloses Unternehmen. Es gibt zu viel an | |
Moralkommunikation in unserer Kirche und zu wenig an religiöser | |
Kommunikation. | |
Wer austeilt, muss auch einstecken können, haben Sie anfänglich gesagt. | |
Gibt es ein Bibelwort, das Ihnen bei dieser Haltung hilft? | |
Man könnte ja mit Matthäus sagen: Wer nach dem Schwert greift, kommt durch | |
das Schwert um. Aber das entscheidende Bibelwort ist schon das mit der | |
Freiheit. Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit, wie Paulus sagt. | |
1 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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