# taz.de -- "Trireligiöse Musik" in Dresden: Wer glaubt, neigt zum Singen | |
> Wem das Herz voll ist von Gott, muss sich offenbar singend mitteilen - | |
> kofessionsübergreifend. Beim Kirchtag fand ein bemerkenswertes Konzert | |
> statt. | |
Bild: Die Moderatorin Emina Corbo-Mesic (l.) und die jüdische Kantorin Avitall… | |
Gibt es überhaupt irgendeine Religion auf Erden, die ohne Musik auskommt? | |
In der Synagoge betet der Kantor oder die Kantorin die heiligen Texte der | |
Thora in singender Weise vor. In der katholischen Kirche wird das Hochgebet | |
vor der Wandlung oft ähnlich gesungen, gelegentlich auch das Evangelium. | |
Die evangelischen Brüder und Schwester wären ohne ihren Bach und ihre | |
Paul-Gerhardt-Lieder schlicht nicht denkbar. Die Koran-Rezitation erfordert | |
geradezu einen Singsang, vom morgendlichen Ruf des Muezzin zum Gebet ganz | |
abgesehen. Und das alles ist kein Phänomen nur der monotheistischen | |
Glaubensgemeinschaften. Auch die fernöstlichen und viele der so genannten | |
Naturreligionen sind von Musik durchdrungen. | |
Wem das Herz voll ist von Gott, der muss offenbar singen oder musizieren – | |
womit wir beim Kirchentag in Dresden wären, wo es ja gemäß dem | |
Kirchentagsmotto "... da wird auch dein Herz sein" sehr herzlich und | |
natürlich ordentlich fromm zugeht. | |
"Du meine Seele singe. Ein trialogisches Konzert" im Internationalen | |
Congress Centrum an der Elbe belegte die These der engen Verbindung von | |
Musik und Glauben aufs charmanteste. Es traten auf: die jüdische Kantorin | |
Avitall Gerstetter aus Berlin, die christliche Jazzsängerin Sarah Kaiser, | |
ebenfalls aus der Hauptstadt, und – wirklich originell – Hülya Kandemir, | |
eine muslimische Liedermacherin aus München. | |
## Popsongs mit Jazzklängen | |
Die rotgelockte Avitall bot mit ihrer dreiköpfigen Band einen kleinen | |
Überblick über ihr Werk, in dem sich Synagogengesang mit jiddischen | |
Liedern, Popsongs mit Jazzklängen harmonisch verbinden – geprägt zudem | |
immer wieder von Stücken, die das jüdische Leid im Holocaust thematisieren | |
oder zumindest andeuten. Ein Lied kündigte Avitall mit dem Satz an: "Ich | |
kann nicht verstehen, warum man nicht friedlich miteinander auskommen | |
kann." | |
Einen arabischen Song sang sie gar, natürlich zum Thema Frieden, "Es ist | |
Zeit für Frieden". Und dass selbst der jiddische Schlager "Bei mir bist du | |
schön" (Bei Mir Bistu Shein) aus den Dreißiger Jahren mit einer religiösen | |
Komponente versehen werden kann, zeigte Avitall, indem sie so in das Lied | |
einführte: "Egal, welche Religion du hast …" - den Satz beenden musste sie | |
gar nicht mehr. Die rund 300 Zuhörerinnen und Zuhörer applaudierten lange. | |
## Allah füllt die Leere im Herzen | |
Ähnlich gut kam auch Hülya Kandemir an, die – bis auf einen Song – nur mit | |
einer Begleitmusikerin auftrat, die das Akkordeon und die Keyboards | |
spielte. Hülya Kandemir, züchtig mit einem Kopftuch verschleiert, erzählte | |
in ihren Songs viel über ihre Liebe zu Allah, der die Leere in ihrem Herzen | |
gefüllt habe. Früher hatte sie schon eine gewisse Karriere als Popsternchen | |
vorzuweisen, ehe die türkischstämmige Sängerin ihren muslimischen Glauben | |
als Grundthema ihres Lebens und ihrer Musik fand oder wieder fand. | |
Das Besondere an ihrer Musik war, dass Hülya Kandemir eher wie eine Joan | |
Baez auftrat, singend und eine akkustische Gitarren spielend – und Allah | |
preisend. Zudem berief sie sich ohne generationelle Scheu auf diese | |
Politik-Folk-Sängerin der Sechziger und Siebziger Jahre: Ihr Lied "Sag mir, | |
wo die Blumen sind", mit ausdrücklichem Verweis auch auf Marlene Dietrich | |
auf Deutsch gesungen, gehörte zu den überraschenden Erlebnissen dieses | |
Kirchentages. (Wo war noch mal das Problem mit dem Islam?) | |
Schließlich Sarah Kaiser, die in christlich-protestantischen Kreisen | |
bereits einen gewissen Starstatus besitzt. Die Sängerin verjazzt mit ihrer | |
sehr professionellen Band uraltes christliches Liedgut – etwa den | |
Kirchenlied-Klassiker "Lobe den Herren" von Joachim Neander aus dem 17. | |
Jahrhundert. | |
## Jazz meets Evergreen | |
Oder den ebenso alten Paul-Gerhardt-Evergreen "Befiehl du deine Wege" mit | |
den in evangelischen Kreisen fast schon zu Tode zitierten, gleichwohl sehr | |
schönen Zeilen: "Der Wolken, Luft und Winden / Gibt Wege, Lauf und Bahn / | |
Der wird auch Wege finden / Da dein Fuß gehen kann." Sarah Kaiser gelang | |
es, diesen uralten Liedertexten durch ihre jazzige Untermalung neue Farbe | |
zu geben. Geschmackssache sicherlich, aber durchaus anregend. | |
Zum Schluss sangen die drei Sängerinnen gemeinsam den Avitall-Song "... da | |
wird auch dein Herz sein". Es ist ein Lied einer Jüdin, eigens für den | |
Evangelischen Kirchentag komponiert, zusammen mit einer Muslima und einer | |
Christin interpretiert – man erlebt doch immer wieder Erstaunliches auf | |
einem Kirchentag. Vom Publikum gab es für dieses außergewöhnliche | |
Dreifachkonzert standing ovations. | |
4 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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