# taz.de -- Spezialschule wirft autistisches Kind raus: Nico muss gehen, weil e… | |
> Weil Nico Kömmler gerne wegläuft, sobald die Tür einen Spalt offen ist, | |
> soll er nun ganz gehen. Eine Spezialschule für Autisten hat den Jungen | |
> rausgeworfen. | |
Bild: Autisten kommunizieren mit ihrer Umwelt oft auf eine spezielle Art und We… | |
Nico war sechs, als er die Sternzeichen legte. Er positionierte sie | |
sorgfältig in zwei Reihen. Seine Mutter erkannte die Bedeutung nicht | |
sofort. Dann sah sie: Es waren die Buchstaben der zwölf Sternzeichen, | |
geschrieben mit Plastikbuchstaben, nur eben von rechts nach links. | |
Monika Kömmler fragte ihren Mann, ob er und sein Sohn mit den Buchstaben | |
Sternzeichen geschrieben hatten. Doch der wusste von nichts. Also musste | |
der kleine Junge, gerade mal in die Schule gekommen, das Muster gelegt | |
haben. Ein kleines Wunder. | |
Denn wie sollte Nico das können? Der Junge ist Autist, das bedeutet, er hat | |
eine vollkommen andere Art, die Welt wahrzunehmen und sich ihr zu äußern. | |
Er spricht so gut wie kein Wort, und wenn er es tut, dann nur in einzelnen | |
herausgestoßenen Lauten, die eigentlich nur seine Mutter versteht. | |
## Sobald eine Türe offen steht, will Nico sofort weglaufen | |
Die Schule, das war die große Hoffnung der Kömmlers. Die Schule würde | |
womöglich die verborgenen Talente ihres Sohnes entdecken helfen. | |
Das war vor zehn Jahren, und die Schule ist heute eine große Enttäuschung | |
für Nicos Eltern. | |
Denn Nico hat ein eigentümliches Verhalten. Kaum ist eine Tür nicht | |
verschlossen, sucht er das Weite. Steht ein Fenster auch nur einen Spalt | |
auf, bedeutet das für Nico Kömmler Freiheit. "Der Junge ist pfiffig. Wenn | |
die Türen verriegelt sind, können sie super mit ihm arbeiten", erzählt die | |
Psychologin Bärbel Wohlleben, "aber sobald er eine Lücke entdeckt, flitzt | |
er davon. Nico ist ein extremer Wegläufer." | |
Nicolas Kömmler, 15 Jahre alt, ein großer Junge mit wachen Augen, hat | |
keinen Spleen. Das Weglaufen gehört zu seiner Persönlichkeit als Autist - | |
wiewohl auch andere Kinder Weglaufzwänge entwickeln können. Nur wenige | |
Menschen können den Jugendlichen Nico so gut verstehen wie Bärbel | |
Wohlleben. Sie ist die zweite Vorsitzende eines Autismusvereins. Dennoch | |
ist sein Kredit nun aufgebraucht: Nico soll die Schule verlassen. | |
## Nico führt das Berliner Konzept zur Integration ad absurdum | |
Wohlleben und die Schule haben entschieden, Nico Kömmler nicht mehr zu | |
unterrichten. Das ist für die Schule eine Erleichterung - und zugleich ein | |
Politikum: Denn die Schule ist eine staatliche Spezialschule, die für | |
Schüler wie ihn gemacht ist: Eine von zwei Berliner "Auftragsschulen für | |
Autismus", betrieben vom Berliner Senat in Zusammenarbeit mit Wohllebens | |
Verein "Autismus Deutschland". | |
Der fluchtwillige Nico stellt Berlins Integrationskonzept auf den Kopf. Die | |
Stadt hält sich für einen Vorreiter integrativen Lernens. Seit 30 Jahren | |
gibt es hier Vorzeigeschulen, die behinderte und andere Kinder gemeinsam | |
unterrichten. Gerade wird im Bildungsausschuss des Abgeordnetenhauses um | |
die sogenannte Inklusion gerungen - wenn die durchkommt, hätte Nico sogar | |
das Recht, auf eine ganz normale Schule zu gehen. | |
So wie die meisten der 740 Berliner Schüler mit Autismus. Aber bei Nico ist | |
alles anders: Eine Autistenschule kündigt dem Autisten - weil er autistisch | |
ist. Und ein Autismusverein macht das alles mit. | |
Die Psychologin Wohlleben wird wütend, wenn sie das hört. Dass Nico wegen | |
seines Autismus gehen müsse, ist für sie eine unfaire Fehlinterpretation. | |
"Es geht nicht um Nicos Autismus, sondern um sein Verhalten", sagt sie. "Es | |
ist den Lehrern nicht zuzumuten, dass sie die Verantwortung für ein Kind | |
übernehmen, das dauernd weglaufen will." | |
## Nico wird jetzt ersatzweise zu Hause unterrichtet | |
Nicos Mutter ist nicht wütend, sondern ratlos: "Wo soll mein autistischer | |
Sohn eigentlich in die Schule gehen, wenn ihn eine Autistenschule nicht | |
nimmt?", fragt sie. Sie weiß, dass ihr Junge die Schule herausfordert. Sie | |
empfindet auch keine Wut auf die Lehrer und Erzieher. "Das Team, das Nico | |
im Schuljahr 2009/2010 betreute, hat in allen Bereichen gute Arbeit | |
geleistet", sagt sie. | |
Aber mit dem Land ist sie sehr unzufrieden. "Der Staat kann nicht | |
einerseits auf Schulpflicht pochen - und andererseits einen Autisten aus | |
einer Schule verweisen, die er speziell für ihn betreibt." | |
Seit Oktober letzten Jahres erhält Nico nun ersatzweise Hausunterricht - | |
ein ziemlich dürres Programm. Sechs Stunden pro Woche kommt eine | |
Hauslehrerin und übt mit Nico. Das ist, aus organisatorischen Gründen, | |
immer montags. Den Rest der Woche sitzt Nico zu Hause. Er spielt - und er | |
versucht wegzulaufen. Auch da. | |
Nico ist, wie alle Autisten, ein faszinierender Mensch. Was er tut, wirft | |
Rätsel auf, weil man immer denkt, es gibt ein geheimnisvolles Muster darin. | |
Schokolade zu essen zum Beispiel. Das ist für Nico eine minutiöse Prozedur. | |
Er mag ausschließlich Nougatgeschmack einer bestimmten Marke. | |
Der Junge lässt sich die Tafel nach einem genauen Muster knicken und | |
öffnen. Dann wird sie in Rippen von zwei Stückchen Länge zerlegt. Nico | |
beginnt nur dann zu essen, wenn sie rechtwinklig vor ihm liegt und wenn | |
sich die längere der beiden Packungslaschen rechts befindet. Treten | |
kleinste Abweichungen auf, verweigert er die Schokolade. Nico ist da eigen. | |
## Für die Familie ist das Berliner Schulsystem keine Hilfe | |
Nicos Mutter geht wunderbar mit ihrem Sohn um. Klar und zärtlich. Auch sie | |
muss jederzeit damit rechnen, dass er davonläuft. Im ganzen Haus sind alle | |
Ausgänge gesichert, die Fenster gut verschlossen. Es wäre wichtig für Nico, | |
dass er wieder in die Schule geht - und für seine Mutter genauso. | |
Nicos Schwester hat ebenfalls eine schwere Behinderung, Spina bifida heißt | |
sie: offener Rücken, die Wirbelsäule hat einen Spalt. Oder anders gesagt: | |
Nicos Schwester ist querschnittsgelähmt. Bei den Kömmlers zu Hause fühlt | |
man sich wie auf einer Intensivstation. | |
Aber für die Kömmlers bietet Berlins Schulsystem keine Entlastung. In der | |
Hauptstadt findet sich eine Vielzahl von Spezialschulen, darunter auch die | |
beiden Auftragsschulen für Autismus, eine im Westen der Stadt gelegen, in | |
Wilmersdorf, eine in Friedrichshain. An diesen Schulen hat Nico seine | |
bisherige Schulzeit verbracht - aber beide haben ihn abgeschoben. Erst | |
verwies ihn die Westschule in den Osten. Nico, der in Lichtenrade wohnt, | |
muss seitdem täglich zwei Stunden zur Schule und zurück gefahren werden. | |
Nun mag auch die Schule im Osten der Stadt nicht mehr. Den Umzug in ein | |
neues Gebäude nahm die Schule zum Anlass, den Burschen auszuschließen. Der | |
zwei Meter hohe Zaun um die ehemalige Kita sei nicht hoch genug, heißt es. | |
Auch komplexe Weglaufsperren an den Türen nützten nichts. Einfach | |
abschließen, das gehe aus Feuerschutzgründen nicht. Das neue Schulgebäude | |
der Auftragsschule für Autismus sieht schön und perfekt aus - nur ist für | |
Nico nach dem Umbau kein Platz mehr. | |
## Nicos Fall könnte ein Skandal werden | |
Die Schulleiterin sagt kühl, auch die Schulpflicht habe ihre Grenzen. Aber | |
so darf man sie nicht zitieren - denn in dieser Sache sei nur der Schulrat | |
befugt, Auskunft erteilen. "Die bezirkliche Schulaufsicht bedauert, wenn es | |
in besonderen Einzelfällen nicht möglich ist, Kinder am regulären | |
Unterricht teilnehmen zu lassen", schreibt er. | |
Der Schulrat äußert sich eng abgestimmt mit der Senatsverwaltung für | |
Bildung. Denn Nico könnte sich zu einem echten Skandal entwickeln. Am | |
gestrigen Dienstag war eine weitere Schulhilfekonferenz angesetzt, um doch | |
noch eine Lösung zu finden. (Das Ergebnis der neuerlichen Sitzung lag bei | |
Redaktionsschluss noch nicht vor.) | |
Nicos Anwältin Rita Maria Brucker macht wenig Aufhebens. "Nico hat sich | |
nicht verändert, sondern die Schule", sagt sie. "Sie hat ihn vor dem Umzug | |
unterrichtet - also muss das auch hinterher möglich sein." | |
Die Experten sind diplomatisch, aber bestimmt. Ulf Preuß-Lausitz, | |
meinungsstarker Professor für die Integration von besonderen Kindern, hält | |
"im Grundsatz auch Kinder mit autistischen Zügen für integrierbar. | |
Natürlich ist nicht einmal dieser Fall ein Argument für Sonderschulen, | |
sondern eher für einen ganzheitlichen und frühzeitigen Hilfeplan." | |
## Expertin rät zu neuer Lernstruktur für autistische Kinder | |
Susanne Rabe, eine Autismus-Expertin, meint: "Wenn die Kinder schwierig | |
sind, muss man das Konzept ändern und darf nicht die Kinder wegschicken." | |
Was sie für grundsätzlich falsch hält, ist, Schüler mit sozialen Problemen | |
aus einer Gemeinschaft auszuschließen. "Wenn ich diese Schüler aussondere, | |
dann lernen die den Kontakt zu ihrer Umwelt nie." | |
Die erfahrene Sonderpädagogin Rabe gibt auch den Hinweis, dass nicht immer | |
bessere Sicherheitseinrichtungen den Ausschlag geben, sondern eine andere | |
Pädagogik. Susanne Rabe plädiert für Kinder wie Nico für einen Tages- und | |
Lernplan mit glasklarer Struktur. Methodenfreiheit von Klasse zu Klasse - | |
wie sie in Nicos Berliner Schule praktiziert wird - ist ihrer Ansicht nach | |
nicht der richtige Weg. Das heißt aber nicht, dass der Unterricht nach | |
Schema F ablaufen soll: "Es geht darum, für jedes Kind den individuell | |
besten Weg zu finden." Maximale Sicherheit und Wiedererkennbarkeit - und | |
darin höchste Freiheit und Kreativität. | |
Susanne Rabe weiß, wovon sie spricht. Sie ist Leiterin der Burgdorf-Schule | |
in Fürstenwalde. Das ist eine Brandenburger Schule der Samariter, von deren | |
150 Schülern ein Drittel Autisten sind. Die größte Gruppe an der Schule | |
stellen bereits jetzt - die aus der 60 Kilometer entfernten Hauptstadt | |
flüchtenden Schüler mit Autismus. | |
8 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Christian Füller | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Softwarekonzern SAP setzt auf Autisten: Der andere Blick | |
Sie arbeiten konzentriert und fehlerfrei, ohne zu ermüden. Trotz zum Teil | |
massiver Kommunikationschwierigkeiten können Autisten ideale | |
IT-Spezialisten sein. | |
Recht auf allgemeinbildende Regelschule : Gemeinsames Lernen, erster Akt | |
Die Länder beginnen, "inklusive Schulen" einzurichten – Schulen, an denen | |
behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen. Ein Beispiel aus | |
Bayern. | |
Aktionsplan für bessere Integration: Von der Leyen blitzt bei Behinderten ab | |
Die Sozialministerin will Behinderte künftig stärker in die Gesellschaft | |
holen. Konkreter wird sie nicht. Behindertenverbände halten den Plan für | |
mutlos. | |
Wissenschaftler raten ab: Mit Diäten gegen Autismus | |
Bei autistischen Kindern ist die Schulmedizin hilflos. Eltern greifen | |
häufig zu einer Ernährungstherapie. Die meisten Wissenschaftler raten aber | |
davon ab. |