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# taz.de -- Einwanderung ohne Hürden: Oh, wie schön ist Kanada
> Den Betrieben gehen die Fachkräfte aus. Arbeitsministerin Ursula von der
> Leyen will es künftig den Unternehmen überlassen, Fachkräfte aus dem
> Ausland zu holen.
Bild: Sie gehen dem deutschen Arbeitsmarkt aus: Ingenieure.
BERLIN taz | 440 Kilogramm wiegt eine der mannshohen gelblichen Rollen aus
Zellulose, mit denen die Produktionsstraßen der Paul Hartmann AG alle paar
Stunden gefüttert werden. Dann saugen die Maschinen die Stoffbahnen in sich
hinein, schneiden, kleben, falten bis zu 800 Mal pro Minute und spucken
kurz darauf am 60 Meter entfernten anderen Ende fertige Windeln aus, schön
verpackt in Plastikfolie und braune Kartons. Rund eine Milliarde saugfähige
Einlagen verlassen diese und eine weitere Halle pro Jahr.
In einer derart kapitalintensiven Fabrik arbeitet kaum noch ein Mensch.
Drei Beschäftigte reichen, um eines der zwölf Fließbänder zu
beaufsichtigen. Doch selbst wenige Spezialisten einzustellen, fällt dem
Unternehmen aus Heidenheim bei Stuttgart zunehmend schwer. "Die Lage ist
zwar noch nicht beängstigend, aber künftig wird sich eine größere Lücke
zwischen Angebot und Nachfrage von Fachkräften auftun", sagt André
Tavernier, der Leiter der Personalentwicklung bei Hartmann.
Vor einiger Zeit hat die Firma eine "Demografie-Analyse" durchgeführt. Man
wollte wissen: Wie entwickelt sich die Altersstruktur der Belegschaft? Muss
Hartmann sein Rekrutierungsverhalten ändern? Was kann man noch tun, um
geeignete Bewerber zu finden - über die bereits praktizierten
Traineeprogramme und das Talentmanagement hinaus? Eine der Antworten, die
Tavernier gibt, lautet: "Die Hürden zu senken, um die Anwerbung
qualifizierter Fachkräfte im Ausland zu ermöglichen, ist der richtige Weg."
## Kanada als Vorbild in Einwanderungspolitik
Spezialisten außerhalb Deutschlands und der EU zu suchen, wird für Hartmann
und andere Unternehmen in ähnlicher Lage ab Mittwoch leichter. "Wir setzen
die Vorrangprüfung aus", erklärt Arbeitsministerin Ursula von der Leyen
(CDU). Deutsche Firmen können damit Ingenieure für Maschinenbau, Fahrzeug-
und Elektrotechnik sowie Ärzte weltweit anwerben, ohne zunächst geeignete
Kandidaten im Inland ausfindig machen zu müssen.
Damit durchbricht die Bundesregierung ihre bislang restriktive
Einwanderungspolitik an einer entscheidenden Stelle. Bislang durften auch
Hochqualifizierte, die die Wirtschaft eigentlich gerne eingestellt hätte,
nur nach monatelangem, schwierigem Prozedere einreisen und hierzulande
arbeiten. Jetzt sieht es plötzlich anders aus: Deutschland wird Kanada. Das
nordamerikanische Land veröffentlicht auf den Internetseiten seiner
Einwanderungsbehörde regelmäßig eine Liste mit weltweit gesuchten Berufen.
Die deutsche Liste ist dagegen sehr kurz, aber erstmals gibt es nun eine.
Diesen grundsätzlichen Schwenk beschließt die Bundesregierung während ihrer
Kabinettssitzung am Mittwoch. Das 32-Seiten-Papier trägt den Titel "Konzept
zur Fachkräftesicherung". Über weite Strecken geht es darum, wie
Deutschland seinen Bedarf an Arbeitskräften auch künftig aus dem Inland
decken kann. Aber ziemlich weit hinten findet sich dann doch der Satz: "Die
Bundesregierung wird durch die Ausgestaltung des Zuwanderungsrechts die
Attraktivität Deutschlands für Hochqualifizierte steigern."
## Erfolg für die Arbeitsministerin
Darauf gedrungen haben die Wirtschaftsminister der FDP, Rainer Brüderle und
Philipp Rösler. Dass Deutschland nun tatsächlich seine Türen öffnet, beruht
aber vor allem auf einem Sinneswandel innerhalb der Union. Wieder einmal
kann Arbeitsministerin von der Leyen einen Erfolg als Modernisiererin der
konservativen Partei verbuchen. Sie ist im vergangenen Jahr durch die
Firmen, Verbände und Kreistage getourt, um Unterstützung für ihr Anliegen
zu mobilisieren. Parteiinterne Kritiker wie der CSU-Arbeitsmarktexperte Max
Straubinger konnten den Richtungswechsel nicht verhindern, weil von der
Leyen die Unterstützung von CDU-Bildungsministerin Annette Schavan,
Kanzlerin Angela Merkel und der Wirtschaft genießt.
Denn Windel-Hersteller Hartmann ist nicht das einzige Unternehmen, das
beginnende Engpässe spürt. So sagt Rüdiger Bechstein, Personalleiter der
Firma Kärcher, des Herstellers von Hochdruckreinigern: "Beispielsweise in
Hohenlohe im Nordosten Baden-Württembergs liegt die Arbeitslosigkeit bei
drei Prozent. Dort herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Angesichts dieser
Entwicklung dauert es schon einmal anderthalb Jahre, bis wir
Ingenieurstellen besetzen können - obwohl wir frühzeitig mit der
Personalsuche beginnen."
Rupert Hutterer, Geschäftsführer der Carl Stahl GmbH aus München, berichtet
Ähnliches. Das Unternehmen, das unter anderem Stahlseile für Skilifte
fertigt, sucht dringend Mechatroniker, die die Anlagen nach dem Aufbau
prüfen.
## Nachwuchs kann Lücken nicht auffüllen
Und in den kommenden Jahren könnte sich der Fachkräftemangel zu einem
ernsthaften Problem ausweiten, das die Entwicklung der Unternehmen
behindert. So sehen es viele Experten, auch die Bundesagentur für Arbeit
teilt diese Einschätzung. Deren Vorstand Raimund Becker erklärt: "Wir
müssen damit rechnen, dass im Jahr 2025 in Deutschland rund 6,5 Millionen
Arbeitskräfte fehlen." Dies liege schlicht daran, dass zu wenige Kinder in
Deutschland geboren würden und mehr Beschäftigte in Rente gehen, so Becker.
Der wichtige Punkt: Selbst wenn die Regierung alle Hebel in Bewegung
setzte, mehr Frauen in den Beruf einstiegen, Ältere länger arbeiteten und
Schulabbrecher doch noch eine Ausbildung erhielten, würde der Nachwuchs
nicht alle freien Stellen in den Unternehmen besetzen können. "Trotz dieser
und anderer Maßnahmen prognostizieren wir eine weitere Lücke von zwei
Millionen Beschäftigten in 2025", sagt BA-Vorstand Becker. Für ihn ist
deshalb völlig klar, dass man dem Problem nur mit mehr Einwanderung
beikommen kann.
Experten, die diese Position vertreten, treffen allerdings auf eine hitzige
Debatte. Von Wirtschaftsverbänden wie dem Deutschen Industrie- und
Handelskammertag erhalten sie Unterstützung. Der Deutsche Gewerkschaftsbund
dagegen ist sehr reserviert. Dort heißt es, dass die Versorgung
inländischer Arbeitsloser mit Jobs absolute Priorität habe. Erst, wenn das
gelungen sei, könne man eventuell zum Mittel verstärkter Einwanderung
greifen.
## Kompliziertes Verfahren der Vorrangprüfung
Und wie ist die Stimmung in der Bevölkerung? Dies hat Arbeitsministerin von
der Leyen vom Institut Allensbach untersuchen lassen. 2004 lehnten demnach
59 Prozent der befragten Bürger Einwanderung ab, solange es
Arbeitslosigkeit gibt. Im vergangenen Jahr sank der Wert der Ablehnung auf
46 Prozent. Von der Leyen sieht darin einen Fortschritt, muss aber
einräumen, dass knapp die Hälfte der Bevölkerung ihre Zuwanderungspolitik
ablehnt.
Das ficht die Ministerin freilich nicht an. Sie ist überzeugt: "Wir müssen
uns grundsätzlich anders aufstellen", um die Versorgung der Unternehmen mit
qualifizierten Beschäftigten zu sichern. Die Abschaffung der Vorrangprüfung
für Ingenieure und Ärzte ist dabei nur der erste Schritt.
Bislang mussten deutsche Unternehmen, die beispielsweise Bewerber aus
Nicht-EU-Staaten wie Tunesien oder Indien anstellen wollten, ein
kompliziertes Verfahren durchlaufen. Im Rahmen der Vorrangprüfung suchte
die Bundesagentur manchmal monatelang nach geeigneten deutschen Bewerben
oder Kandidaten aus EU-Ländern. Erst wenn diese Suche erfolglos verlief,
durften die Nicht-EU-Arbeitnehmer hier Geld verdienen. Über Ingenieure und
Ärzte hinaus denkt von der Leyen nun daran, auch die Einwanderung von
IT-Spezialisten und anderen Berufen zu erleichtern.
## Weitere Hürden sollen gesenkt werden
Außerdem will sie noch vor der Sommerpause eine weitere Hürde senken.
Bislang dürfen Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten nur dann ohne
Beschränkungen in Deutschland eine Stelle antreten, wenn sie mehr als
66.000 Euro pro Jahr brutto verdienen. Diese Grenze sollte den Zuzug auf
wenige teure Hochqualifizierte beschränken. Aus genau diesem Grund hält sie
von der Leyen nun für hinderlich. Die Ministerin strebt an, den
Mindestverdienst auf rund 40.000 Euro zu reduzieren. Dann könnten
beispielsweise auch Facharbeiter aus Nordafrika oder Russland nach
Deutschland kommen, die in der Autoindustrie gebraucht werden.
Ob die CDU-Modernisiererin diesen Punkt gegen ihre Kritiker in der Union so
schnell durchsetzen kann, wie sie hofft, darf man jedoch bezweifeln.
Mindestens aber "in dieser Legislaturperiode" wolle man die Verdienstgrenze
senken, ist in ihrem Ministerium zu hören.
22 Jun 2011
## AUTOREN
Hannes Koch
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