Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Berlin-Wahl 2011: Gewinnen und verlieren mit Thilo Sarrazin
> Im Kreuzberger Wahlkreis 3 treten zur Abgeordnetenhauswahl im September
> vier türkeistämmige KandidatInnen gegeneinander an. Gegen Sarrazins
> rassistische Thesen sind sie alle - auch der SPD-Mann. Doch dem könnte
> sein umstrittener Parteifreund den Wahlkampf versauen
Bild: Rund um das Jüdische Museum in Kreuzberg erstreckt sich der Wahlkreis 3,…
Seine ersten Wahlkampfflyer sind schon fertig: Freundlich sieht Muharrem
Aras darauf aus, fast brav, nur das Lächeln ist ein bisschen verschmitzt:
Schwiegermutters Liebling. Auch in echt ist der 39-jährige Rechtsanwalt
liebenswürdig und höflich. Er spricht leise, wirkt bescheiden, fast ein
wenig zu bescheiden für einen Politiker.
Dabei hat Muharrem Aras Großes vor. Er will bei der Abgeordnetenhauswahl im
September den Wahlkreis 3 in Kreuzberg zurückgewinnen: zwischen Mitte im
Norden und der U 1 im Süden, Wilhelmstraße im Westen und Schlesischem Tor
im Osten. Hier hatten bei der Wahl im Jahr 2006 die Grünen die Nase vorn:
mit Özcan Mutlu, dem vielleicht bekanntesten türkischstämmigen Politiker
Berlins. Als Direktkandidat fuhr er 33,8 Prozent der Stimmen ein. Sein
damaliger SPD-Konkurrent Stefan Zackenfels erreichte nur 29,1 Prozent, die
CDU holte 11,2, die Linke 10,9 Prozent.
Doch Mutlu tritt diesmal im Wahlkreis nicht an, ein guter Listenplatz
erspart dem Bildungspolitiker die Mühen des Bezirkswahlkampfs. Ein Vorteil
für Aras, der im Bezirk kein ganz Unbekannter, aber auch noch kein
Politstar ist. Aras steht für linke SPD-Politik, er kümmert sich um
drängende Fragen wie steigende Mieten und Gentrifizierung. Dass er aus der
Türkei stammt, ist im multikulturellen Kreuzberg keine schlechte
Voraussetzung für Politik-Newcomer. So treten auch Grüne, CDU und
Linkspartei im nordwestlichen Kreuzberg mit türkischstämmigen KandidatInnen
an.
Die schlichten, in Weiß gehaltenen Räume von Aras Kanzlei liegen im
Wahlkreis, nahe dem Jüdischen Museum. "Fifty-fifty" habe er seine
Gewinnchance eingeschätzt, sagt der SPD-Kandidat. Bis seine Partei
beschloss, den Genossen Thilo Sarrazin, der mit Thesen über kulturell und
genetisch bedingte Integrations- und Bildungsunfähigkeit muslimischer
MigrantInnen die Integrationsdebatte aufgewirbelt hatte, nicht
auszuschließen. Aras war und ist für den Rausschmiss. "Ich bin der
Überzeugung, dass Sarrazin ein überheblicher, auch rassistisch denkender
Mensch ist, der auf Kosten der Migranten Millionär geworden ist", sagt er.
Klare Positionierung ist jetzt Aras einzige Chance. Selbst auszutreten,
daran habe er aber nie gedacht: "Wir können doch jetzt nicht die Partei den
Sarrazinisten überlassen!" Er glaube nicht, dass die MigrantInnen wegen
Sarrazin nicht mehr SPD wählen würden. Aber leicht werde der Wahlkampf
sicher nicht.
"Wir Migranten werden Sarrazin nicht so schnell vergessen", sagt Figen
Izgin. Dafür werde sie auch persönlich sorgen, "und zwar nicht nur bis zur
Wahl". Zum zweiten Mal tritt die 45-jährige Sozialpädagogin im Wahlkreis 3
für die Linkspartei an. Ob Sarrazin ihr Punkte bringe, wisse sie nicht,
sagt Izgin, aber ihr letztes Wahlergebnis will sie auf jeden Fall
verbessern: "Berlin braucht die Linke in der Regierung." Quirlig wirkt sie,
lebendig, ihre Stimme ist unverwechselbar. Sie liebt es, "auf der Straße zu
sein, mit den Menschen zu reden".
Izgin freut sich auf den Wahlkampf. Dass sie, 1979 als 14-Jährige aus der
Türkei nach Deutschland gekommen, gegen drei türkischstämmige Männer
antritt, findet die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern besonders
spannend. "Gut" sei es, wenn Migranten politisch mitmischen: "Das zieht
hoffentlich noch mehr Einwanderer in die Politik hinein." Doch es komme im
Wahlkampf nicht auf Herkunft, sondern auf Inhalte an, glaubt Izgin:
"Deutsche sind doch genauso von den negativen gesellschaftlichen
Veränderungen betroffen."
Auch Ertan Taskiran ist wie Izgin und Aras als Kind aus der Türkei nach
Deutschland gekommen. Er fühle sich als Berliner und wolle Politik hier
mitgestalten, sagt der 40-jährige Verkaufsleiter. Taskiran tritt im
Wahlkreis 3 für die CDU an - in einem anderen Wahlkreis hätte er nicht
kandidiert, sagt er: "Hier ist meine politische Heimat, ich lebe seit 31
Jahren hier. Hier lebt die Kreuzberger Mischung, Menschen unterschiedlicher
Herkunft und Kultur." Taskiran sieht eine reale Chance, den Wahlkreis zu
gewinnen. Jugendarbeitslosigkeit, Bildung, Diskriminierung, ein
drogenfreies Kreuzberg sind die Themen, mit denen er punkten will.
Politisch aktiv ist er schon lange. 1996 musste er die CDU verlassen, weil
ihm seine Mitarbeit in der vom Verfassungsschutz als "islamistisch"
eingestuften Organisation Milli Görüs vorgeworfen wurde. 1998 trat er
wieder ein. Die CDU sei Vorreiter in Sachen Integrationspolitik, sagt
Taskiran. Er verweist auf den Integrationsgipfel, die Islamkonferenz - und
auf Aygül Özkan, die 2010 als bundesweit erste türkischstämmige Ministerin
von der CDU in Niedersachsen berufen wurde. Die SPD dagegen pflege eine
integrationspolitische Doppelmoral: "Die Sarrazin-Geschichte wird sie
gerade hier in Kreuzberg Stimmen kosten."
Turgut Altug ist die Ruhe selbst. Die langen Haare zum Zopf gebunden, sitzt
der Umweltfachmann in Kreuzberg im Türkisch-Deutschen Umweltzentrum, das er
selbst mit gegründet hat. Auf der Landesliste der Grünen stehe er zwar weit
unten, sagt Altug, im Wahlkreis habe er aber "gute Chancen". Altug ist im
Bezirk seit Jahren aktiv: Sein Zentrum veröffentlicht die deutsch-türkische
Umweltzeitschrift MUZ, er organisiert das Interkulturelle Umwelt- und
Gesundheitsfestival auf dem Oranienplatz, pflegt einen interkulturellen
Garten. Für sein Engagement bekam er 2010 eine Integrationsmedaille der
Bundesregierung.
Anders als die anderen KandidatInnen ist der Grüne erst mit Mitte 20 nach
Deutschland gekommen, um seine Doktorarbeit zu schreiben. "Egal wo man
lebt, für mich gehört dazu, dass man die Sprache lernt, dass man sich
einbringt", sagt er. Deutschland biete glücklicherweise viele
Möglichkeiten: "In der Türkei passte ich mit meiner Weltanschauung nicht
ins Bild." Ist er Deutschlandfan? "Ich bin jemand, der sich kritisch mit
der Gesellschaft, in der er lebt, auseinandersetzt", sagt Altug und lächelt
entspannt.
Der Kampf um den Wahlkreis werde zwischen ihm und dem SPD-Kandidaten Aras
entschieden, prophezeit Altug: "Wir haben mit der SPD die meisten
Schnittmengen. Aber die Sozialdemokraten konnten die Probleme dieser Stadt
nicht lösen." Ob ihm die Debatte um Thilo Sarrazin und den Umgang der SPD
mit ihm Stimmen bringen wird? "Es kommt darauf an, wie weit das im
Gedächtnis der Leute hängen bleiben wird." Für ihn werde das im Wahlkampf
keine Rolle spielen, sagt Altug: "Das Problem Sarrazin muss die SPD selbst
lösen." Aber er bekomme mit, "dass viele MigrantInnen nicht glücklich
darüber sind, dass Sarrazin in der SPD bleiben kann".
Der Wahlkampf dürfte nicht leicht werden für den SPD-Mann Muharrem Aras.
30 Jun 2011
## AUTOREN
Alke Wierth
## TAGS
Schwerpunkt Wahlen in Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
taz-Veranstaltung zur Berlin-Wahl: Eigentlich gibt es viel zu tun
Wem gehört der Kreuzberger Kiez? Den "Türken", weil es vier türkeistämmige
Kandidaten gibt? Oder sitzen wir alle im selben Gentrifizierungsboot? Eine
Diskussion im taz-Café.
Vier türkeistämmige Kandidaten in Kreuzberg: Auf die Gesichter achtet keiner
Im Wahlkreis 3 von Kreuzberg gehen Grüne, SPD, CDU und Linke mit
türkeistämmigen Kandidaten auf Stimmenfang. Was halten ihre Wähler davon?
RBB gegen Güner Balci: Krach wegen Sarrazin
Hat der Rundfunk Berlin-Brandenburg einen Beitrag über Thilo Sarrazin aus
Angst vor der öffentlichen Reaktion verhindert? Über die Gründe gibt es
zwei Versionen.
Die Berliner Grünen im Wahlkampf: Die rote Renate
Miese Umfragen, Witze von SPDlern, ein betrunkener Mitarbeiter: Es läuft
schlecht für Renate Künast, die Berlin regieren will. Jetzt setzt sie auf
das Label "sozial und gerecht".
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.