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# taz.de -- Baden-Württembergs grüner Landesvater: Die neue Radikalität der …
> Oppositionelles Regieren? Winfried Kretschmann weiß, wie das in
> Baden-Württemberg gehen kann. Er ist ein gutes Beispiel für die Realität
> der Post-Volksparteien-Zeit.
Bild: Winfried Kretschmann und die Grünen müssen beweisen, wie professionell …
Es wird sich keiner mehr erinnern wollen, aber eben noch galt die Frage
vielerorten als satisfaktionsfähig, wann die Grünen sich endlich auflösen
würden, dieses erledigte und deformierte Ein-Themen- und
Ein-Generationen-Projekt. Jetzt gilt es als selbstverständlich, darüber zu
sinnieren, wer 2013 der richtige grüne Kanzlerkandidat sein wird. Falls
Joschka Fischer nicht antritt. Das Ökologisch-Soziale, das die Grünen
repräsentieren, ist plötzlich zur gleichberechtigten gesellschaftlichen
Kraft neben Christlich-Sozialen und Gewerkschaftlich-Sozialen aufgestiegen.
Wo etwas wächst und breiter wird, wächst auch die Enttäuschung.
Entsprechend wendet sich Altkundschaft ab. Traditionell müssen zur
Grünen-Ablehnung zwei Figuren herhalten: Das Festhalten an grünen Idealen
(von rechts) und der Verrat grüner Ideale (von links). Dabei wechseln viele
Wähler zu den Grünen wegen deren Standfestigkeit und der damit erreichten
Regierungsfähigkeit, während paradoxerweise bestimmte Stammwähler nun den
Eindruck haben, es könnten hier nur Verrat und Machtfixierung vorliegen. So
manch Altwähler kann es aus ästhetisch-pubertären Gründen wohl nicht
ertragen, nun zu einer Mehrheit zu gehören. Das führende Grünen-Personal
geht ihnen ausgerechnet in dem Moment auf den Wecker, wo ökosoziale
Reformen endlich möglich sind, wegen denen sie die Partei Jahrzehnte
gewählt haben.
## Jahrzehnte der Opposition
Das ist der altgrüne Mythos des trutzigen Dagegenseins (Hauptsache
Opposition) und der neugrüne Mythos vom bieder-opportunistischen Dafürsein
(Hauptsache Macht). Beim Kampf um Zukunft und Deutungshoheit dieser
Gesellschaft wird damit unverdrossen gearbeitet. Je grundsätzlicher, je
theoretischer, desto besser. Doch wenden wir uns der Realität zu, sehen wir
nur einen Grünen-Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg, der vielleicht
die interessanteste Landesregierung in der Geschichte der Bundesrepublik
anführt.
Winfried Kretschmann: Von 1968 über die Splitter-Kommunismus-Gruppe zum
idealistischen Grünen-Gründer. Aber dann zu einem ordentlichen und
identitären Landespolitiker, der Jahrzehnte in der Opposition durchhielt,
weil er das Jahrhundertthema der ökologischen Transformation mit dem darin
enthaltenen Versprechen der globalen Gerechtigkeit nie aus dem Auge verlor.
Kretschmann hat den Satz, dass das Amt zum Mensch kommen müsse, so oft
gesagt, dass er wie eine Phrase klingt. In seinem Fall stimmt das aber.
Und noch mehr gilt, dass die Leute zum Thema kommen müssen. Kretschmanns
zwei große Themen sind jetzt zentral für die baden-württembergische
Gesellschaft geworden - die ökosoziale Wende ohne Wohlstandsverlust und die
Wende zu einer Bürgerregierung. Also muss er regieren. Ist doch logisch.
Man wird sehen, wie weit er kommt. Es wird bei der öffentlichen Bewertung
in den nächsten Monaten auch stark darauf ankommen, wie es um die
Professionalität der baden-württembergischen Grünen bei der Handhabung von
Verwaltung und Öffentlichkeit bestellt ist.
Wer aber annimmt, dass Grüne an der Macht weichgespülte Verräter seien und
der MP allenfalls ein biederer Landesonkel, der sollte sich Kretschmanns
Ansagen besser nochmal genau anschauen. Der inhaltliche Kern dessen, was er
mit seinen Dauersalven von "Maß, Mitte und Besonnenheit" garniert hat, ist
von einer Radikalität, wie man sie kaum einmal gehört hat von einem der
führenden Politiker Europas - und dazu gehört der baden-württembergische
Ministerpräsident qua Wirtschaftskraft dieses Landes.
Kretschmann hat den Übergang rhetorisch bereits vollzogen, der für die
Bundesgrünen noch ansteht - von der SPD ganz zu schweigen -, jenen von der
Anti-Atom-Partei zur Partei der ökosozialen Transformation von Wirtschaft
und Gesellschaft. Er steht nicht für ein weichgespültes Regierungsgrün,
sondern eine neue Radikalität. Er war radikal ausdauernd, um das vom ihm
beschworene "dicke Brett" dann zu bohren, wenn die Gesellschaft dafür
bereit ist und ihm eine entsprechende Mehrheit gibt.
## Stuttgart 21: Kretschmann will die Bürger entscheiden lassen.
Aber hat er diese Mehrheit wirklich? Noch nicht. Er hat 24,2 Prozent
Grünen-Wähler (von denen auch noch nicht alle Kretschmann-Aficionados
sind). Er muss sich das, was für ihn seit Jahrzehnten selbstverständlich
ist, nun von den Leuten bestätigen lassen, auch von denen, die ihn nicht
gewählt haben. Etwa, dass "weniger Autos natürlich besser sind als mehr
Autos". Er kann dies genauso wenig verordnen, wie er Stuttgart 21 einfach
absagen kann. Dafür entscheidet sich sein politisches Schicksal auch nicht
an der Frage, ob der neue Stuttgarter Bahnhof nun gebaut wird oder nicht.
Im Gegensatz zu seinem Verkehrsminister Winfried Hermann steht er nicht für
ein "Entweder so - oder ohne mich". Sein Versprechen lautet, dass nicht die
Grünen entscheiden, sondern die Bürger. Dass sie entscheiden, muss er
hinbekommen. Wie sie entscheiden, ist ihre Sache. Das ist nur gerecht, denn
es waren nicht die Grünen, sondern die Bürger, die am Bahnhof die alte
Politik gestürzt und den Politikwechsel eingeleitet haben.
So hart das für engagierte Bahnhofsgegner ist: Die Ablehnung von Stuttgart
21 ist zwar die Zäsur, die markiert, dass eine Art des Denkens,
Wirtschaftens und Politikmachens ans Ende gekommen war. Kretschmanns
wichtigste Aufgabe ist aber nicht die Verhinderung des Bahnhofs, sondern
ein schneller Ausbau der bisher politisch unterdrückten Windenergie. Der
Aufbau von regionalen, erneuerbaren, öffentlichen Energieunternehmen und
der Umbau des Atom- und Kohle-Energieunternehmens EnBW. Auch das ist von
großer Symbolik: Es geht nicht mehr ums Verhindern - seien es AKWs oder
Bahnhöfe. Es geht jetzt prioritär um die Gestaltung der Energiewende.
## Wandel der Gesellschaft
Kretschmann hat mit Amtsantritt klargemacht, dass es aus seiner Sicht einen
anderen Wohlstandsbegriff und ein anderes Wirtschaften braucht. Es geht
nicht darum, dass er das seit Jahren sagt, so wie es andere Politiker auch
tun. Es geht darum, dass ihm als Ministerpräsident zugehört wird und werden
muss. Es braucht eine harte Diskussion darüber, wie qualitatives Wachstum
funktioniert. Man darf die Aufgeklärtheit der Gesellschaft dabei nicht
überschätzen. Während für die einen der Paradigmenwechsel bereits
Selbstverständlichkeit ist, kriegen andere einen Schock, wenn sie das Wort
"Mobilitätskonzept" hören - längst nicht nur bezahlte Lobbyisten der
Autoindustrie. Kretschmanns Aufgabe ist es, mit denen zu reden, denen noch
jegliche Vorstellung fehlt, was alles möglich ist, auch wenn man nicht
möglichst viele große Autos baut.
Kretschmann muss den mentalen Wandel der Gesellschaft fördern und als
Bürgerministerpräsident auch moderieren. Er muss einen neuen Weg
einschlagen, jenseits des alten Streits von Wachstumsgläubigen und
Wachstumskritikern. Dieser Weg kann kein urgrüner sein. Gelingt es ihm
aber, den reichen Baden-Württembergern die Dimension der Nachhaltigkeit
klarzumachen, wird die ganze Republik nachziehen.
Die Platzhirschgrünen in Berlin brauchen vor ihm keine Angst haben. Selbst
wenn es aussichtsreich wäre, es ist unwahrscheinlich, dass Kretschmann
Kanzler werden will. Er mag derzeit die Nummer zwei auf der Liste sein -
hinter Fischer. Doch dürfte es ihm mehr um die Sache gehen, um
Baden-Württemberg.
## Die Post-Volksparteien-Zeit
Renate Künast könnte im Herbst mit einem Sieg in Berlin gleichziehen.
Vielleicht sogar Robert Habeck in Schleswig-Holstein. Da wird im Mai 2012
gewählt. Auch Habeck (so er denn nominiert wird), steht wie Kretschmann für
die neue grüne Radikalität, die politische Führung im Lande zu
beanspruchen.
Man will wieder mit der SPD koalieren. Aber nicht als Rückkehr zur guten,
schlechten alten Zeit. Auch nicht, weil die vielbeschworenen inhaltlichen
Überschneidungen angeblich so groß sind. Dass grade der ehemalige
Schwarz-Grün-Protagonist Kretschmann die erste Grünen-SPD-Regierung
anführt, ist die Realität der Post-Volksparteien-Zeit, wo der grüne
Idealfall der ist, selbst die Nummer eins zu sein. Das gelingt eher mit der
SPD. Gilt aber auch für Künast und etwaige andere Koalitionen in Berlin.
Die neue Radikalität der Grünen muss sich angesichts der Realität prioritär
im bewussten Willen zur Führung neuer Mehrheiten manifestieren.
Ministerpräsident Kretschmann symbolisiert zur Stunde den Anspruch eines
wachsenden Teils der Gesellschaft an die Grünen, gefälligst
Regierungspartei zu sein. Eine vernünftige. Und so möglich, die führende.
Es ist sicher nicht leicht, dafür die sorgsam gepflegte Politfolklore in
den Hintergrund treten zu lassen. Aber wir haben heutzutage einfach andere
Sorgen.
1 Jul 2011
## AUTOREN
Peter Unfried
## TAGS
Schwerpunkt Stuttgart 21
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