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# taz.de -- Klage gegen EU-Hilfen: Karlsruhe macht freiwillige Überstunden
> Eigentlich sind die Karlsruher Verfassungrichter gar nicht zuständig für
> die Prüfung von EU-Maßnahmen. Sie kümmern sich trotzdem um die aktuelle
> Klage.
Bild: Mehr, als eigentlich sein muss: Karlsruhe nimmt die Rolle eines Oberaufse…
KARLSRUHE taz | Armes Bundesverfassungsgericht. Eigentlich sind die Richter
völlig überlastet. Jüngst haben sie sogar die Einführung einer verschärften
Missbrauchsgebühr gegen unnütze Klagen vorgeschlagen. Und dann kommen immer
noch diese europäischen Großverfahren hinzu, die Karlsruhe wochen- und
monatelang in Beschlag nehmen.
Doch Mitleid haben die Richter nicht verdient. Letztlich machen sie bei den
EU-Verfahren freiwillige Überstunden. Ob sich EU-Recht in den Grenzen der
EU-Verträge hält, muss eigentlich der Europäische Gerichtshof (EuGH)
prüfen, dem Karlsruhe aber noch nie ein Verfahren vorgelegt hat. Auch die
Prüfung von EU-Recht am Grundgesetz kann das Verfassungsgericht nur
vornehmen, indem es zu einem Trick greift.
Denn eigentlich können gegen die deutschen Zustimmungs- und
Umsetzungsgesetze laut Grundgesetz nur Landesregierungen oder ein Viertel
der Bundestagsabgeordneten klagen - die das aber nicht tun. Um solche
Gesetze dennoch prüfen zu können, akzeptiert Karlsruhe auch
[1][Verfassungsbeschwerden von einzelnen Bürgern].
Diese machen geltend, dass ihr Wahlrecht zum Bundestag entwertet wird, wenn
neue Kompetenzen auf die EU Übergehen. Diese nicht sehr naheliegende
Argumentation hat Karlsruhe 1993 erstmals akzeptiert, seither tragen dies
alle Kläger vor - als "Sesam-öffne-Dich" zum Verfassungsgericht. Karlsruhe
nimmt so die Rolle eines Oberaufsehers der EU ein, die nationalen
Verfassungsgerichten eigentlich nicht zusteht. Denn die EU könnte nicht
funktionieren, wenn sie sich stets noch an den - natürlich
unterschiedlichen - Rechtsauffassungen von 27 Verfassungsgerichten
orientieren müsste.
## Karlsruhe will Kontrollfunktion ausüben
Bisher hat das Bundesverfassungsgericht seine Gourvernanten-Rolle eher
maßvoll ausgeübt. Obwohl es schon seit dem Maastricht-Urteil von 1993 in
Anspruch nimmt zu prüfen, ob sich EU-Beschlüsse im Rahmen der EU-Verträge
halten, wurde noch nie ein EU-Rechtsakt von Karlsruhe beanstandet. Auch die
grundlegenden Verträge von Maastricht (Einführung der Währungsunion) und
Lissabon (effizientere EU-Strukturen, mehr Einfluss des EU-Parlaments) hat
Karlsruhe akzeptiert und dabei jeweils nur den Bundestag gegenüber der
Bundesregierung gestärkt.
EU-Skeptiker sind schon frustriert und bemühen oft das Bild vom Tiger, der
als Bettvorleger endete. Inzwischen hat Karlsruhe seine Gourvernanten-Rolle
sogar weitgehend zurückgenommen. Im Lissabon-Urteil 2009 hieß es, man werde
nur einschreiten, wenn der EuGH "ersichtlich" jenseits seiner Kompetenzen
("ultra vires") urteile. Auch wurde versprochen, dass Karlsruhe seine
Kontrollfunktion nur "europarechtsfreundlich" anwenden wolle. In der
Honeywell-Entscheidung im Sommer 2010 zeigt sich Karlsruhe noch
zurückhaltender.
Nur "offensichtlich kompetenzwidrige" Urteile des EuGH sollen beanstandet
werden. Außerdem müsse das jeweilige EuGH-Urteil zu einer "strukturell
bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen EU und
Mitgliedsstaaten" führen. Zudem will Karlsruhe, bevor es ein EuGH-Urteil
für unanwendbar erklärt, dem Luxemburger Gericht Geelegenheit zur
Stellungnahme geben. Tatsächlich hat der Druck aus Karlsruhe immer wieder
auch positive Entwicklungen in Europa bewirkt.
## Konflikte mit dem EuGH in Hintergrund getreten
So kritisierte das Bundesverfassungsgericht 1974, dass der EuGH keine
Grundrechte prüft. Daraufhin begann der EuGH, aus den gemeinsamen
Verfassungstraditionen eigene EU-Grundrechte als Richterrecht zu
entwickeln. Inzwischen gibt es eine geschriebene EU-Grundrechts-Charta.
Mögliche Konflikte mit dem EuGH in Luxemburg sind in den letzten Jahren
ohnehin in den Hintergrund getreten. Stattdessen nahm Karlsruhe zunehmend
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Konkurrenz war.
Mehrfach hat der EGMR, der von 47 Staaten inklusive Russland und der
Schweiz getragen wird, Karlsruher Rechtsprechung korrigiert: nichteheliche
Väter bekamen mehr Rechte, Prominente wurden besser gegen Pressefotografen
geschützt und zuletzt wurde die nachträgliche Verlängerung der
Sicherungsverwahrung beanstandet. Das Bundesverfassungsgericht übernahm
daraufhin im Kern jeweils die Straßburger Sichtweise und bewies damit auch
seine Europafähigkeit.
5 Jul 2011
## LINKS
[1] /1/zukunft/wirtschaft/artikel/1/der-klub-der-alten-klaeger/
## AUTOREN
Christian Rath
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