# taz.de -- Offene Gesellschaft in Norwegen: Freiheit gibt es nicht gratis | |
> In Norwegen ist es nicht außergewöhnlich, mit einem Minister an der | |
> Supermarktkasse zu plaudern. Wird das nach dem Massaker so bleiben? | |
Bild: Trauer in Oslo: Ministerpräsident Jens Stoltenberg (M.), seine Ehefrau u… | |
STOCKHOLM taz | Eine doppelseitige Anzeige schaltete das norwegische | |
Militär vor einigen Wochen in allen Zeitungen des Landes. Auf der linken | |
Seite eine idyllische Fjordlandschaft mit norwegischer Flagge, auf der | |
rechten Seite das Bild eines alten Mannes. Der Text: "Wenn du glaubst, dass | |
Freiheit etwas ist, was man gratis bekommt, würde dieser Mann gerne mal mit | |
dir reden." | |
Das Bild zeigte Gunnar Fridtjof Sønsteby. Einen Mann aus der | |
Widerstandsbewegung gegen die nazideutsche Besetzung des Landes. Die | |
Geschichte der Sabotageaktionen von "Kjakan" oder "Nr.24", so Sønstebys | |
Decknamen, lernen alle norwegischen Schulkinder. | |
Wie es ist, wenn man die Freiheit erst verliert und sie sich dann | |
wiedererkämpft, das ist tief im Bewusstsein dieses Landes verankert. Und | |
auch, dass dieser Kampf einen Preis hat. Nicht von ungefähr endete die Rede | |
von Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Sonntag bei der Trauerfeier in | |
Oslos Domkirche mit einem kraftvollen Appell für Demokratie, Offenheit und | |
Freiheit. Schon unmittelbar nach dem Blutbad hatte er betont, Norwegen | |
werde auf diese Anschläge mit größerer Offenheit und mehr Demokratie | |
reagieren. Dem Terror werde es nicht gelingen, Norwegen zu verändern. Dafür | |
würden die Norweger ihr Land so wie es sei zu sehr lieben. | |
Die Wirklichkeit sieht derzeit anders aus. Vor öffentlichen Gebäuden in der | |
Innenstadt von Oslo zeigen Militär und Polizei deutliche Präsenz. Norwegen, | |
obwohl kein EU-Mitglied dennoch Schengenland, hat sich von Brüssel die | |
vorübergehende Einführung von Grenzkontrollen genehmigen lassen. Es gibt | |
erste Plädoyers für eine schärfere Überwachung von Internet-Foren. Und man | |
trifft nicht einfach mehr eine Ministerin oder einen Parteivorsitzenden auf | |
der Straße oder im Supermarkt. | |
## Personenschutz nur in Ausnahmen | |
Das und die Möglichkeit mit führenden Politikern bei solchen Gelegenheiten | |
ein kurzes Schwätzchen führen zu können, konnte sich bis zum 22. Juli | |
durchaus ergeben. Wenn es nicht gerade der Ministerpräsident war, forderten | |
die meisten Regierungsmitglieder nur ausnahmsweise einen Personenschutz an. | |
Auch eine so kontroverse Persönlichkeit wie Siv Jensen, Vorsitzende der | |
rechtspopulistischen "Fortschrittspartei", gab einen Tag nach den Bluttaten | |
ihrer Hoffnung Ausdruck, sie werde sich auch in Zukunft frei bewegen | |
können. | |
Auch was den Umgang mit links- und rechtsextremen Parteien und | |
Organisationen angeht, war Norwegen bislang eine relativ offene | |
Gesellschaft. Vor allem gegen links gab es zwar jahrzehntelang | |
umfangreiche, teilweise illegale Abhöraktionen, aber keine | |
Verbotsverfahren. Über die Anwesenheit eines Mannes wie Mullah Krekar, der | |
öffentlich seine Unterstützung für einen Osama bin Laden erklärte und auf | |
der "Terrorliste" der UN geführt wird, ist man in Oslo nicht glücklich. Mit | |
seiner verbalen Unterstützung für al-Qaida macht er sich nach geltendem | |
Recht nicht strafbar. | |
Versuche von Sicherheitsdienst oder Strafverfolgungsbehören, Krekar | |
auszuweisen, haben Gerichte oder Justizministerium letztendlich immer | |
verhindert. "Wir schicken niemanden dorthin, wo ihm die Todesstrafe droht", | |
erklärte Justizstaatssekretär Pål Lønseth, "auch einen Krekar nicht." | |
Norwegen stellte die nach 9/11 von UN und EU eingerichtete "Terrorliste" | |
als erstes Land wegen fehlender Rechtssicherheit grundsätzlich infrage und | |
erklärte schon 2006, dass diese Liste für Oslo nicht mehr verbindlich sei. | |
## Vergleichbar mit Schweden | |
Ansonsten ist Norwegen aber ein treuer Verbündeter der Nato und der USA. | |
Die Beteiligung norwegischer Truppen am Afghanistankrieg im Rahmen von Isaf | |
und beim Militäreinsatz in Libyen hat deshalb das Bedrohungsniveau gegen | |
Oslo in den letzten Jahren erhöht. Im Januar 2008 gab es in Kabul einen | |
Bombenanschlag, der sich offenbar gezielt auf das norwegische militärische | |
Engagement dort richtete. Mehrfach sprachen angebliche Al-Qaida-Sprecher | |
Drohungen gegen Norwegen aus. Diese kamen auch von anderen Gruppierungen im | |
Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen. | |
Zu einer dauernden Erhöhung der Sicherheitsvorkehrungen führte das alles | |
nicht. Dass ungehinderter Verkehr vor der Regierungskanzlei - wo Breivik am | |
Freitag seine Bombe platzierte - ein Sicherheitsrisiko sei, darüber wurde | |
bereits nach 9/11 diskutiert. Zu einer Sperrung oder zu Kontrollen kam es | |
nie. Zumindest das soll sich nun ändern. | |
Wird sich noch mehr ändern? Auf diese Frage kann das Nachbarland eine | |
Antwort geben. Schweden hält sich zugute, eine ähnlich offene Gesellschaft | |
wie Norwegen zu sein. Diese Offenheit wurde in den letzten Jahren mehrfach | |
auf die Probe gestellt: Mit dem Palme-Attentat 1986, der Ermordung von | |
Außenministerin Anna Lindh 2003 und dem Selbstmordanschlag des Taimour | |
Abdulwahab im Dezember 2010 in Stockholm. | |
Jedes Mal wurden danach Kontrollen deutlich verschärft, die vielgepriesene | |
Offenheit wurde eingeschränkt. Teilweise hatte das Bestand, teilweise wurde | |
es wieder gelockert. Doch Schweden hat sich deutlich mehr Offenheit bewahrt | |
als viele europäische Länder. Norwegen wird sich verändern. "Aber wir | |
stehen fest zu unseren Werten", erklärte ähnlich wie der Ministerpräsident | |
und Vertreter aller norwegischen Parteien auch König Harald: "Freiheit ist | |
stärker als Furcht." | |
26 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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