# taz.de -- Politische Dumpfbackenrhetorik: Neid gegen Gier = endloses Wachstum | |
> Warum glauben wir an die stete Steigerung? Weil die Welt in Haben und | |
> Nichthaben eingeteilt wird. Wie soziale Strukturen in menschliche | |
> Eigenschaften umgedichtet werden. | |
Bild: Irgendwann ist natürlich Schluss... | |
Biologisch gesehen besteht kein Zweifel: Wachsen, immer wieder und weiter | |
wachsen, das geht nicht; Leben vollzieht sich als Entstehen und Vergehen. | |
Wenn endloses Wachstum eine logische und biologische Unmöglichkeit ist, | |
warum verfallen dann trotzdem die führenden Köpfe der gesamten westlichen | |
Welt seit mehr als 200 Jahren der Idee, dass Wirtschaft und Wissen stetig | |
wachsen müssten? | |
Weshalb kommt keine Regierungserklärung ohne Hinweise auf die Notwendigkeit | |
des Wachstums aus? Was muss diese moderne westliche Welt, die Rationalität | |
als ihr Markenzeichen hochhält und die sich als klügste und erfolgreichste | |
der Menschheitsgeschichte fühlt, alles verdrängen, um das Unmögliche zum | |
Programm erheben zu können. | |
## Die Falle: Gier versus Neid | |
Der Ruf nach mehr ist sinnvoll, wenn die Diagnose "zu wenig" lautet. Warum | |
glauben auch diejenigen, die vergleichsweise sehr viel haben, dass es noch | |
zu wenig ist? Weil sie gierig sind, sagen diejenigen, die wenig oder nichts | |
haben. Die sind nur neidisch, antworten empört die Reichen und | |
Erfolgreichen. Neid gegen Gier - das ist der Höhepunkt einer politischen | |
Dumpfbackenrhetorik, die soziale Strukturen in menschliche Eigenschaften | |
umdichtet: So sind Politiker machthungrig, Wissenschaftler wissensdurstig, | |
Sportler siegestrunken, Journalisten sensationsgeil und Manager geldgierig; | |
und umgekehrt ist die Kritik an Ungerechtigkeiten nur Sozialneid. | |
Wachstum als Wirtschaftsziel ist kein isoliertes Phänomen, sondern eine | |
Variante der Steigerungslogik, die alle Leistungsfelder unserer | |
Gesellschaft durchzieht. Um die Pointe vorwegzunehmen: Das | |
Fortschrittswunder der Moderne beruht auf Trivialisierung. Hinter dem "mehr | |
vom selben" steckt eine absolut banale Automatik, die höchste Effektivität | |
und größte Beschränktheit gleichzeitig verursacht. | |
Immer wenn eine Entscheidungssituation nur zwei Möglichkeiten anbietet und | |
die eine als die gute, als den Leitwert, die andere als die schlechte | |
auszeichnet, entsteht ein zwingender Erwartungsdruck, mehr vom Guten und | |
weniger vom Schlechten zu realisieren. Das Fatale dabei: Das Gute erzeugt | |
zugleich das Schlechte, kein Sieg ohne Niederlage, keine Mächtigen ohne | |
Machtlose. Es entsteht eine nicht enden wollende Spirale: Die Wirkung der | |
Ursache wird zur Ursache der Wirkung. Zuverlässig kann damit gerechnet | |
werden, dass die Herausforderungen höher, die Bemühungen professioneller, | |
die Leistungen besser werden, weil die Verlierer beim nächsten Mal gewinnen | |
wollen. Im Sport hilft notfalls Doping, in der Wirtschaft Bilanzfälschung, | |
in der Wissenschaft das Plagiat. Psychosomatisch steht für dieses Phänomen | |
der Begriff Sucht: Der Konsum der Droge ruft das Begehren nach der Droge | |
hervor. | |
## Triste Vereinfachung der Welt | |
Es ist für das Funktionieren der modernen Gesellschaft typisch - die | |
soziologische Systemtheorie hat es unter dem Stichwort binäre Codierung im | |
Detail nachgezeichnet -, dass sich ihre wichtigen Leistungsfelder an | |
solchen Trivialschemata orientieren: die Justiz an Recht oder Unrecht, die | |
Politik an Regierung oder Opposition, die Wissenschaft an Wahrheit oder | |
Unwahrheit, die Wirtschaft an Haben oder Nichthaben. Diese Kriterien sind | |
alt. Das Moderne daran ist, dass sie Autonomie erlangen und sich frei | |
entfalten dürfen. | |
Für die vormoderne Ökonomie, für den oikos, die Hauswirtschaft, war es ganz | |
selbstverständlich, dass das wirtschaftliche Handeln in das | |
gesellschaftliche Leben eingebettet war, dass also viele Aspekte - | |
familiäre, politische, religiöse, militärische, rechtliche etc. - | |
zusammengeflossen sind. In der "freien Wirtschaft" wird schrankenloses | |
Habenwollen zur strukturell vorgegebenen Erwartung. Ihre beiden | |
Steigerungsformen heißen "billiger", also weniger Kosten vor allem durch | |
Produktivitätssteigerung, und "mehr", also höhere Einnahmen besonders durch | |
mehr Konsum. | |
In einer Welt, die tausendundeinen anderen Unterschied kennt, in der die | |
Menschen ihr Denken, Reden und Tun an zahllosen anderen Werten orientieren | |
können, versucht die Wirtschaft ihren einen und einzigen Positivwert, das | |
Mehr-Geld-Haben im Unterschied zum Nichthaben, durchzusetzen. | |
## Kampf fürs Unwirtschaftliche | |
Kein Ausweg, nirgends? Im Gegenteil, der Augenschein trügt, überall zeigen | |
sich Ansatzpunkte. Gewiss ist eine eigenständige soziale Existenz ohne Geld | |
nicht zu bekommen; diese Alltagserfahrung macht es "der Wirtschaft" leicht, | |
aufzutrumpfen und so zu tun, als ob gesellschaftlicher Nutzen nur von | |
wirtschaftlichem Erfolg abhinge. | |
Aber die Umkehrung hat viel mehr Gewicht. Keine Wirtschaft ohne | |
Gesellschaft. Kein Unternehmen kann erfolgreich sein, ohne sich mit seinen | |
"Anspruchsgruppen", mit den Interessen, Fragen, Wünschen seiner | |
"Stakeholder" also, das heißt mit einer Fülle nichtwirtschaftlicher Themen | |
zu beschäftigen. Unternehmen haben es immer schon mit dem Problem zu tun, | |
dass ihr Erfolg an Entscheidungen hängt, die andere als wirtschaftliche | |
Motive haben. Es ist ein ganzes Quartett, das die Chance hat, mit seinen | |
Entscheidungen ökonomischen Erfolg von außerökonomischen Gesichtspunkten | |
abhängig zu machen: die Politik, die Kunden, die Arbeitskräfte, die | |
Investoren. | |
Alle vier sollten aufhören, die Beleidigten zu spielen ob der Tatsache, | |
dass Unternehmen größtmöglichen Gewinn machen wollen. Das ist der Sinn der | |
"freien Wirtschaft", einen anderen kennt sie nicht. Alle Verantwortung | |
dafür, dass die Wirtschaft ökologische, soziale, kulturelle, familiäre, | |
humanistische Gesichtspunkte gelten lässt, liegt bei den Arbeitskräften, | |
den Kunden, den Investoren und der Politik gleichermaßen. Dass die | |
Wirtschaft nicht von sich aus nichtwirtschaftlich handelt, ist für dieses | |
Quartett kein Alibi, sondern der dringende Anlass, tätig zu werden. | |
Hören wir endlich auf damit, uns als Arbeitskräfte, Kunden, Politiker oder | |
Investoren ein schlechtes Gewissen machen zu lassen, nur weil das, was wir | |
von der Wirtschaft verlangen, unwirtschaftlich ist. Eine | |
"Wirtschaftsgesellschaft" kann nur die Gesellschaft verhindern. | |
31 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Hans-Jürgen Arlt | |
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