# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Nichts ist unfassbar | |
> Ob Oslo oder Somalia: Jede Katastrophe hat Gründe, die zu ihr geführt | |
> haben. | |
Gibt es eine bessere Art, auf Tragödien zu reagieren, als ihre Ursachen zu | |
verstehen, damit sie sich nicht wiederholen und um das schrecklich | |
fatalistische Wort "unfassbar" mit den Opfern zu beerdigen? | |
Nun werden die Opfer nicht überall in einem Staatsakt unter Anteilnahme | |
Hunderttausender vor laufenden Kameras bestattet. Anderswo werden sie | |
entlang des Weges zurückgelassen, in notdürftig mit den eigenen Fingern in | |
die harte Erde gebuddelten Löchern, damit sie nicht als Futter für Hyänen | |
und Geier enden. Anderswo dauert das Grauen nicht wenige Stunden, sondern | |
Wochen und Monate, und es ist kein Ende in Sicht. Doch sowohl in Norwegen | |
wie auch in Somalia gibt es klare Ursachen für das Sterben, gibt es | |
Verantwortliche und Wege zur Vermeidung ähnlicher Katastrophen. | |
Die Menschen in Ostafrika sterben massenhaft - doch nicht an einer | |
unglückseligen Dürre, sondern an weitreichenden, systemimmanenten | |
Missständen: am Klimawandel, an neoliberalen Ideologien, militaristischen | |
Interventionen und unbeständigen Getreidemärkten. Angesichts der | |
ökologischen Veränderungen in der Sahelzone von Dürre zu reden ist nach so | |
vielen regenlosen Jahren unpassend. Vielmehr schreitet die Wüste voran - | |
manch eine Region wird endgültig austrocknen. | |
Dieses Schicksal droht nicht nur unbedeutenden Weltenden wie Somalia, | |
sondern auch hochmodernen Großstädten wie etwa Perth oder Las Vegas. Die | |
katastrophalen sozialen Folgen, vor denen uns Klimaforscher seit Jahren | |
warnen, treten nun ein - der Sommer 2011 wird vielleicht in die Geschichte | |
eingehen als das Jahr, in dem die Menschheit erkannte, was ihr blühen wird, | |
wenn sie sich nicht von Wachstumsgier und Profitwahn verabschiedet. | |
## Dürre lässt sich bekämpfen | |
Trotzdem könnte man den Menschen lokal helfen, wenn es finanzielle Hilfen | |
gäbe für Nomaden, Viehhüter und Kleinbauern, damit sie tiefere Brunnen | |
bohren und Techniken einführen können, um das Regenwasser, das meist | |
sintflutartig niedergeht, zu sammeln. Aber nein, lokale, nachhaltige, | |
landwirtschaftliche Produktion passt nicht in die herrschenden Ideologien, | |
dafür gibt es kaum Geld. | |
Anstatt traditionelle, arbeitsintensive, aber überwiegend autarke Techniken | |
zu unterstützen, wird "Entwicklungshilfe" überwiegend dazu benutzt, selbst | |
in ökologisch fragile Länder eine konsumorientierte, hochmechanisierte und | |
von fossilen Brennstoffen abhängige Wirtschaft einzuführen (im letzten | |
Jahrzehnt beispielhaft in Afghanistan vorgeführt). Schlimmer noch, gerade | |
am Horn von Afrika, in Äthiopien und Sudan, sind riesige fruchtbare Gebiete | |
an ausländische Investoren verkauft worden, die dort Lebensmittel für eine | |
privilegierte Bevölkerung anderer Kontinente anbauen wollen. | |
## Gründe für den Bürgerkrieg | |
Das ist ein profitables Geschäft, das aufgrund zunehmender klimatischer | |
Unsicherheit noch lukrativer werden wird. Während der russischen Dürre 2010 | |
hat der größte Rohstoffhändler der Welt, die Schweizer Firma Glencore, an | |
den Börsen auf steigende Weizenpreise gesetzt, während ihre russische | |
Niederlassung den Kreml zu einem Getreideexportverbot drängte - der | |
Nettogewinn stieg auf 2,6 Milliarden Euro. Da das World Food Programme von | |
russischen Lieferungen abhängig ist, haben Preisschwankungen dramatische | |
Folgen für die Hunger leidenden Regionen der Welt. | |
Auch die politische Brutalisierung Somalias, durch die sich die Lage | |
verschlimmert, hat komplexe Ursachen. Seit den 70er Jahren des letzten | |
Jahrhunderts toben in Somalia und Äthiopien Stellvertreterkriege, in denen | |
die USA und die Sowjetunion ihre jeweiligen Lieblingsdiktatoren zu | |
unsinnigen Aggressionen ermutigten und diese auch finanzierten. Wie | |
anderswo waren militärische Einsätze leichter zu rechtfertigen und | |
finanzieren als Investitionen in eine veterinäre Grundversorgung. Nimmt man | |
die Überfischung in den Gewässern vor der somalischen Küste hinzu, die zum | |
Aufkommen der Piraterie beigetragen hat, erkennt man die Gründe für einen | |
tödlichen Bürgerkrieg. | |
Klimaforscher nennen Dürren "schleichende Desaster", weil die Auswirkungen | |
nicht unmittelbar zu spüren sind. In diesem Sinne ist Volksverhetzung eine | |
geistige Dürre. | |
## So viel Hassenergie | |
Der diskursive Overkill läuft immer wieder nach demselben Muster ab: Ein | |
Autor, eine Publizistin oder gleich eine Achse von Kreuzrittern, die sich | |
erfolgreich als Rächer der Entrechteten und Verteidiger der letzten | |
Zitadelle in Pose geworfen haben, werfen den ersten Kieselstein, in den | |
Kommentaren und Foren werden schwerere und schärfere Brocken nachgeworfen, | |
die rhetorische Steinigung nimmt Fahrt auf, bis einem angst und bange | |
werden kann, wenn man sich vorstellt, dass sich auch nur eine Bruchteil | |
dieser Hassenergie materialisiert - wie jetzt geschehen. Man muss nur | |
einige Lesestunden auf antimuslimischen Webseiten wie "Politically | |
Incorrect" verbringen, um zu spüren, wie vergiftet, wie aggressionsgeladen | |
die Atmosphäre ist. | |
"Dies mag die Tat eines einsamen, verrückten, paranoiden Individuums sein", | |
hat der Politikwissenschaftler Hajo Funke es auf den Punkt gebracht, "aber | |
das rechtsextreme Milieu schafft die Atmosphäre, die solche Menschen auf | |
den Pfad der Gewalt führt." Das stimmt - nur gilt das Milieu nicht mehr als | |
rechtsextrem, es ist inzwischen mitten im Bürgertum verankert. | |
Das will manch einer nicht einsehen. Der Chefredakteur der konservativen | |
österreichischen Tageszeitung Die Presse warnte gleich: "Jeder Versuch, die | |
Quellen für die wirren Fantasien eines Psychopaten zur Diskreditierung des | |
politischen Gegners heranzuziehen, kommt einer Ausbeutung der Opfer | |
gleich." Wer sich in den Foren auch seiner Zeitung umschaut, wird | |
feststellen, dass der Attentäter keineswegs ausnehmend wirre Fantasien | |
hatte, sondern gängige, weit verbreitete Ansichten pflegte. | |
Vieles wird dieser Tage als "unfassbar" bezeichnet. Jedoch ist auffällig, | |
dass die Kommentatoren das Wort erheblich öfter in Zusammenhang mit dem | |
Blutbad in Norwegen als mit dem Massensterben in Ostafrika in Verbindung | |
bringen. | |
3 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Ilja Trojanow | |
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