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# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Bis hierhin alles prima
> Unsere Gegenwart wird immer absurder. Doch wir merken es nicht einmal.
> Ganz im Gegenteil: Wir empfinden das Absurde auch noch als vernünftig,
> sinnvoll oder gar unausweichlich.
So schwer es ist, sich selbst objektiv zu betrachten, so schwer ist es, die
eigene Epoche richtig einzuschätzen. Was gegenwärtig wirklich wertvoll ist,
lässt sich ähnlich schwer feststellen wie die Frage, wo unsere größten
Schwächen liegen, wo wir blind oder gar vernarrt sind. Und doch sehnen wir
uns danach, heute schon den Abstand zu unserer Zeit gewinnen zu können, den
uns das Morgen selbstverständlich schenkt. Darin besteht die
Herausforderung einer politischen und kulturellen Publizistik, die ihren
Namen verdient.
Augenfällig werden die Blindheiten gegenüber der eigenen Zeit bei einer
Umfrage, die das Goethe-Institut jüngst veröffentlicht hat. Jeweils 500
Bürger aus anderen europäischen Ländern wurden befragt, was sie über
Deutschland wissen und denken. In der Kategorie "Wer ist der bedeutendste
Deutsche" antworteten die meisten: Angela Merkel. Allein in Italien
erreichte die Kanzlerin nicht die Top Ten, was daran liegen mag, dass sie
den Ansprüchen der Berlusconi-Ästhetik nicht genügt.
Auf die Frage, welches der bedeutendste deutsche Film sei, gaben in fast
allen Ländern die Befragten "Das Leben der Anderen" an, meist gefolgt von
"Good Bye, Lenin!". So sind zwar Kritik und Nostalgie gegenüber der
untergegangenen DDR gleichermaßen vertreten, mit Sicherheit aber nicht die
Höhepunkte des deutschen Filmschaffens benannt.
Angela Merkel könnte als Chiffre stehen für eine Perspektive, die weder
historische Schärfentiefe noch einen aktuellen Weitwinkelblick besitzt und
der jeglicher Sinn für das Absurde in unserer Gegenwart abhandengekommen
ist. Im Gegenteil: Das Absurde empfinden wir als vernünftig, sinnvoll und
unausweichlich.
## Das Diktat des Überflüssigen
Wenn auf dem neuen Terminal 5 des Flughafens Heathrow alle Dienstleistungen
für den Passagier an den Rand gedrängt worden sind, damit fürstlich Platz
ist für die Einkaufsmeilen mit 48 Geschäften ("a modern, inspirational,
globally sourced collection"), dann stoßen in den engen Durchgängen
frustrierte Passagiere immer wieder gegeneinander, mit dem Gepäckwagen
durch die Menge, Ellbogen ausgefahren, anstatt die aufgegebene Mitte des
gesunden Menschenverstandes wieder zu besetzen.
Als ich letztes Jahr meine minderjährige Tochter in Heathrow 5 an der
Kinderbetreuungsstelle abzuholen hatte, drang ich in verwinkelte Ecken des
Gebäudes vor, die wir ansonsten nur bei Verfolgungsjagden in Thrillern zu
Gesicht bekommen. Auf meine Frage, wieso diese nicht gerade unwichtige
Anlaufstelle so abseitig gelegen und so schwer zu finden sei (selbst
Mitarbeiter des Flughafens hatten mir einen falschen Weg gewiesen),
antworteten die Mitarbeiterinnen, sie würden regelmäßig protestieren, doch
vergeblich, gegen die Duty Free Shops kämen sie nicht an; die genössen
Priorität, die Betreuung der Passagiere sei zweitrangig.
Die Würde des Menschen ist somit nur noch käuflich zu haben, dafür aber
mehrwertsteuerbefreit. Solche Unterordnung des Wesentlichen unter das
Diktat des Überflüssigen - das Erste Gesetz des Zeitgeistes - wird nicht
nur hingenommen: ein Zeitgeistphilosoph wie Alain de Botton hat letztes
Jahr mit üblich eleganter Feder eine Ode an diesen Tempel der modernen
Mobilität geschrieben, ohne jeglichen Sinn für seine Lächerlichkeit.
## Vegane Rhetorik, blutige Tat
Besonders brutal und unmenschlich sind die Absurditäten unserer Epoche in
der Außenpolitik (bei der sich vegane Rhetorik mit mörderischem Verhalten
paart). Wenn ein Marsmännchen dieses Jahr zu Besuch gekommen wäre, hätte es
sich die Antennen gerieben über die Debatten betreffs "humanitärer
militärischer Einsätze".
Zum wiederholten Mal wurden Argumente vorgebracht, weswegen das Töten von
Zivilisten ethisch vertretbar sei, um Zivilisten zu schützen. Dann wurde
Gaddafis Armee verteufelt, weil sie Streubomben benutze. Nur im
Kleingedruckten war zu lesen, dass diese angeblich international geächteten
Bomben aus Spanien stammten.
## Heuchelei der Waffenhändler
Überhaupt benutzt weder die libysche noch die syrische oder die
jemenitische Armee eigene Panzer, Maschinenpistolen oder Kampfjets, sondern
solide Tötungsware aus jenen Ländern, die in Gremien wie dem G-8-Klub
eifrig verhandeln, wie das medial gerade ein wenig inopportune Töten zum
eigenen Nutzen gewendet werden kann. Selbst sogenannte Progressive wägen
auf ihrer moralischen Skala Bomber gegen Bomber, Tank gegen Tank ab, um das
weniger Schädliche auszumachen.
Und die IG Metall warnt vor dem Verlust tausender Jobs in der
Rüstungsindustrie (da sollte man konsequent bleiben und warnen: Das
Ausheben von islamistischen Zellen gefährdet Arbeitsplätze in der
Terrorismusindustrie), kurz bevor sie zum Ostermarsch unter dem Motto
"Frieden schaffen ohne Waffen" rief. Das Zweite Gesetz des Zeitgeistes ist
das Dogma des kleineren Übels.
Welchen zwingenden Grund gibt es, dass Deutschland als weltweit
drittgrößter Rüstungsexporteur fast jedes Regime aufrüstet? Wo sind die
Visionen für eine Welt ohne militärisch-industriellen und
sicherheitsindustriellen Komplex? Schröder oder Merkel, Kohle- oder
Atomkraft, eine Schule oder einen Kindergarten schließen: Der politische
Diskurs ist seit Jahren dominiert vom Dogma des kleineren Übels, wobei die
Unterschiede oft so gering sind, dass man von der Illusion einer
Alternative sprechen muss.
Wo sind die Stimmen, die darauf hinweisen, dass man die Übermacht der
Energiekonzerne sprengen und nicht nur auf nachhaltige, sondern auf
dezentralisierte Stromerzeugung setzen könnte - hätte man nur die visionäre
Kraft, das Ende der parasitären Existenz von Großkonzernen zu denken?
Nasruddin Hodscha, der weise Narr unzähliger Volksgeschichten zwischen dem
Balkan und Indien, rutschte eines Tages vom Dach und stürzte kopfüber nach
unten. Als er an dem Fenster seines Nachbarn vorbeifiel, rief dieser
hinaus: "Nasruddin, wie geht es dir?" Nasruddin rief zurück: "So weit, so
gut!" Daraus lässt sich zwar kein Drittes Gesetz des Zeitgeistes
konstruieren, aber diese Geschichte erscheint mir als offizielle Anekdote
der Europäischen Union bestens geeignet.
25 May 2011
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