| # taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Im Keller der Geheimdienste | |
| > Das Beispiel Russland zeigt, dass es nicht ausreicht, die regierende | |
| > Partei zu verbieten: Was arabische Revolutionäre aus dem Backlash in | |
| > Osteuropa lernen können. | |
| Im "Haus des Terrors" in Budapest nehmen die Besucher einen Aufzug, um in | |
| den Keller zu gelangen. Es ist eine Fahrt aus dem musealen Alltag gekonnt | |
| ausgestellter Exponate in die Hölle eines Leidens, das unvorstellbar | |
| bleibt. Denn im Keller des Museums befanden sich einst, von 1945 bis1961, | |
| die Todeszellen und Folterkammern eines Regimes, das jeden Widerstand | |
| zermalmte. | |
| Kurz bevor man den düsteren Katakomben entsteigt, kommt man an einem Gang | |
| vorbei, an dessen Wänden Fotos der Schergen und Schlächter aufgehängt sind: | |
| eine Galerie der Täter, die allesamt unbestraft geblieben sind. Zwar | |
| befindet sich das "Haus des Terrors" mitten im Stadtteil Pest an der | |
| prachtvollen Andrássy-Straße. Aber es wäre falsch, daraus zu schließen, die | |
| Vergangenheitsbewältigung habe in Ungarn eine zentralen gesellschaftlichen | |
| Platz gefunden. Auch unter der neuen, rhetorisch ausnehmend | |
| antikommunistischen Regierung bleiben die Akten der Staatssicherheit so gut | |
| wie unzugänglich. Das 1997 gegründete "Amt für Geschichte" erlaubt | |
| Betroffenen zwar, Anträge auf Einsicht in ihre Überwachungsakten zu | |
| stellen. Doch sie - wie die Wissenschaftler - erhalten nicht die originären | |
| Akten, sondern nur amtlich angefertigte Zusammenfassungen. Eigentlich sind | |
| die Akten, sagt der ungarische Schriftsteller György Dragomán ("Der weiße | |
| König") beim Gespräch im aus osmanischer Zeit stammenden Rudas-Bad, nie | |
| geöffnet worden. | |
| ## Von Budapest bis nach Sofia | |
| Im 800 Kilometer südöstlich gelegenen Sofia gibt es zwar kein einziges | |
| Museum, das sich mit dem kommunistischen Überwachungs- und | |
| Unterdrückungsstaat und seinen repressiven Institutionen auseinandersetzt. | |
| Dafür waren die Akten der Staatssicherheit zwischenzeitlich wenigstens | |
| teilweise zugänglich. Wer etwas Beharrlichkeit an den Tag legte, konnte | |
| zumindest einen Teil seines Dossiers einsehen. Doch inzwischen ist dieses | |
| Türchen wieder geschlossen und eine aus "Fachleuten" zusammengestellte | |
| Kommission wacht über die Akten wie über missliebige Leichen im Keller. Ein | |
| Zugang wird nur simuliert. | |
| In Bulgarien und in Ungarn regieren Parteien, die sich als "konservativ" | |
| bezeichnen. Sie putzen alte Nationalismen heraus und verteidigen ansonsten | |
| die Pfründen einer Elite, die im Großen und Ganzen seit einem halben | |
| Jahrhundert unverändert geblieben ist. Deswegen, erklärt der Autor Péter | |
| Esterházy beim Kaffee auf der kleinen, aber mit um so größerem Aplomb | |
| eröffneten Buchmesse in Budapest, habe er seinen einstigen Verzicht auf | |
| alle Güter und Immobilien seiner Familie zurückgenommen. Der Verzicht sei | |
| im Interesse eines neuen, demokratischen Ungarns erfolgt - nicht für eine | |
| Reise zurück in die Vergangenheit. | |
| Zwar werde in der Präambel zur neuen Verfassung "Gott und das Christentum | |
| und die Krone und die heilige ungarische Geschichte" beschworen, aber das | |
| sei sprachlich wie auch juristisch völlig nebulös. Die feine Ironie | |
| Esterházys trifft auf den groben Zynismus einer Politik, die sich | |
| Machterhalt um jeden Preis als einziges Ziel gesetzt hat. Gut zwanzig Jahre | |
| seit der Wende, von der zunehmend in Anführungszeichen gesprochen wird, | |
| sind in Ländern wie Ungarn und Bulgarien alle Hoffnungen auf echte | |
| gesellschaftliche Veränderung verschwunden. | |
| ## Dünne Suppe am runden Tisch | |
| Wieso es dazu gekommen ist, hat Ungarns ehemaliger Ministerpräsident József | |
| Antall vor Jahren in einem ehrlichen Augenblick bemerkenswert unverblümt | |
| kundgetan: "Hätten die Herren doch gefälligst eine Revolution gemacht!" | |
| Statt einer Revolution gab es runde Tische, an denen das dünne Süppchen der | |
| Kompromisse gekocht wurde, das die Bevölkerung seither auslöffeln muss. | |
| Gerade in Ungarn, wo 1956 eine Volkserhebung innerhalb weniger Tage ein | |
| scheinbar allmächtiges Regime kurzfristig hinwegfegte, müsste die | |
| Alternative einer radikalen Wende vor Augen gestanden haben. | |
| Wer in Ungarn oder Bulgarien derartige Fragen stellt, wird als Spinner oder | |
| Uneinsichtiger abgetan, der an alten Wunden rührt. Die Vergangenheit ist zu | |
| einem Schlachtfeld öffentlicher Beschimpfungen mutiert, bei denen | |
| Ereignisse und Entwicklungen ideologisch so zurechtgerückt werden, dass die | |
| Geschichte zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Viele junge Bürger haben | |
| deshalb Schwierigkeiten, die faschistischen, kommunistischen und | |
| monarchistischen Phasen auseinanderzuhalten. "Mir brennen die Ohren von | |
| diesem ganzen Gerede über die Stasi und die Kommunisten", sagte ein | |
| Radiomoderator neulich während unseres Gesprächs in Sofia. "Haben wir keine | |
| wichtigeren Themen?" | |
| Nein, könnte man eingedenk der Aufstände in der arabischen Welt antworten. | |
| Ein nicht vollzogener Umbruch, eine nicht entmachtete Oligarchie, eine | |
| nicht vor Gericht gestellte Geheimpolizei und Allmachtspartei, mit anderen | |
| Worten: ein friedlicher, sich an den Gesetzen der faulen Kompromisse | |
| orientierender Übergang führt nicht zu wahrer Gerechtigkeit, sondern zu | |
| einer Rückkehr der Gestrigen in neuem Gewand. Das hat die Erfahrung der | |
| letzten zwei Jahrzehnte in Osteuropa schmerzhaft gezeigt. | |
| ## Langer Schatten des KGB | |
| Bulgarien wird heute von einem früheren Leibwächter des kommunistischen | |
| Diktators Todor Schiwkow regiert, Russland von einem ehemaligen Agenten des | |
| KGB angeführt (wenn es so etwas wie einen "ehemaligen" Agenten überhaupt | |
| gibt. Der Ahnherr der Schergen, Felix Dserschinski, hat bekanntermaßen | |
| verkündet: "Einmal Tscheka, immer Tscheka"). | |
| Das Beispiel Russlands zeigt, dass es nicht ausreicht, die regierende | |
| Partei zu verbieten, wie jüngst in Ägypten geschehen. Die KPdSU wurde am | |
| 21. August 1991 aufgelöst und verboten. Doch die autokratischen | |
| Führungsstrukturen und die oligarchischen Besitztümer sind unangetastet | |
| geblieben. Man kann nur hoffen, dass die Ägypter und Tunesier ihren | |
| bisherigen Erfolg als ersten Schritt einer revolutionären Befreiung | |
| begreifen und sich nicht dem Irrtum hingeben, die Arbeit sei nun erledigt. | |
| Sonst werden von ihren glorreichen Aufständen in zwanzig Jahren nur einige | |
| Fotos in einem Museum übrig bleiben - aufgeladen mit der Trauer, dass es | |
| anders, viel besser, hätte ausgehen können. | |
| 20 Apr 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Ilija Trojanow | |
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