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# taz.de -- Filmfestival in Wroclaw: Hintern, Brüste und der Fetisch Frau
> Das Filmfestival "New Horizons" in Wroclaw widmet Werner Nekes eine
> Werkschau. Ihr Herzstück ist eine Sammlung präkinematografischer
> Apparate.
Bild: Filmfestival "New Horizons": Auf klug ausgewählte, komplexe Filme aus de…
WROCLAW taz | Breslau heißt auf Polnisch Wroclaw. Zum elften Mal fand in
der niederschlesischen Stadt an der Oder Ende Juli das
New-Horizons-Filmfestival statt. Ich bin für drei Tage eingeladen, um mir
die dort gezeigten Filme von Werner Nekes anzuschauen, dem eine
Retrospektive gewidmet ist.
Überall in der Stadt umgrenzen Bauzäune weite Baustellen mit riesigen
Kränen. In Wroclaw wohnen 600.000 Menschen, es ist die viertgrößte und sich
in den letzten Jahren am stärksten entwickelnde Stadt Polens. Wroclaw ist
Austragungsort der Fußballeuropameisterschaft der Männer im kommenden Jahr.
2016 wird Wroclaw neben San Sebastián Kulturhauptstadt Europas sein.
Dafür wird jetzt schon alles schön und funktional gemacht. Ein großer,
weiter und heller Platz beherrscht den im Zweiten Weltkrieg zerstörten
altstädtischen Kern, in dem nun Rekonstruiertes neben Neuem steht, aber
auch alles sehr bevölkert und belebt wirkt. Abends kreisen Jugendliche auf
laut aufheulenden Motorrädern über die breiten, mehrspurigen Straßen, die
die Altstadt umgrenzen.
Neben den Filmen von Nekes zeigt das Festival weitere Werkschauen von Terry
Gilliam, Jack Smith, Andrzej Munk und Reihen über osteuropäische Western
und japanische Pink Eigas. Im Zentrum stehen aber der internationale
Wettbewerb und zahlreiche Nebenreihen mit neuen Produktionen. Alles ist
dabei auf klug ausgewählte, komplexe Filme aus dem nichtkommerziellen
Weltkino ausgerichtet. "Demanding movies", herausfordernde Filme, nennt
Roman Gutek sie.
Er hat das New-Horizons-Festival vor elf Jahren gegründet und leitet es
seitdem. Gutek ist außerdem der wichtigste polnische Verleiher von
Arthousefilmen. 1985, zur Zeit der Militärregierung von Jaruzelski, wurde
er Direktor des Filmfestivals von Warschau. Bis 1993 hat er es geleitet.
Gutek erzählt enthusiastisch von New Horizons und der Offenheit der
Zuschauer, die sich aus den 450 Filmen ihr Programm auswählen können.
Während meiner drei Tage in Breslau kann ich zwölf Arbeiten von Werner
Nekes ansehen, die früheste von 1967. In Deutschland sind sie sonst nur
vereinzelt in Programmen mit Experimental- und Undergroundfilmen zu sehen.
Nekes Filme sind ein wenig in Vergessenheit geraten, vielleicht wegen ihres
obskuren Klassikerstatus, aber wohl auch wegen der für den Zuschauer oft
inkommensurablen Verbindung aus strukturalistischer Insistenz und
erotomaner Aufladung. Bekannt geblieben ist Nekes durch die Zusammenarbeit
mit seiner Ehefrau Dore O., vor allem aber durch den Einfluss, den er in
den 80er Jahren auf die Mülheimer Avantgarde um Christoph Schlingensief und
Helge Schneider ausübte.
Leider hat man "Johnny Flash" (1987), Nekes Film, in dem Helge Schneiders
Schaffen zum ersten Mal einer größeren Öffentlichkeit präsentiert wurde,
nicht in die Retro aufgenommen. Nekes letzter langer Film, der
additiv-libidinöse "Tag des Malers", in dem die Situation des filmischen
Porträtierens weiblicher Akte einer von Psychoanalyse und Gestalttheorie
beeinflussten Analyse unterzogen wird, hatte 1997 in Venedig Premiere.
Danach verzeichnet die Filmografie noch einige Videoarbeiten, die ich aber
nicht kenne, und auch in Wroclaw wurden sie nicht gezeigt. Der erste Film,
den ich dort sehe, ist "Amalgam".
## Ein prätechnoider Sound
In "Amalgam" sind vier Arbeiten von 1976 versammelt, die mir immer dann,
wenn sie mit der Musik des Minimalisten Anthony Moore unterlegt sind,
besonders gut gefallen, denn dann gibt es nicht nur etwas zu sehen, sondern
auch etwas zu hören. Vor allem die Kapitel "Gewebe" und "Textur" sind auf
der Tonebene von Moores schluppigem Sound geprägt, der etwas Knackiges,
prätechnoid Sachliches hat, das sich wie geloopte Geräusche von
Hubschrauberrotorblättern anhört. Im Unterkapitel "Gewebe" ist Dore O.s
nackter Körper dazu partial objektiviert in Wasserbewegungen gezeigt. In
fließend strukturierten Mehrfachbelichtungen werden ihr Gesicht und ihr
Hintern, ihr Haare, Brüste, Arme, Beine, Füße zum vielfach überlagerten
Bewegungsbild komponiert, das in meinem Kopf mit zunehmender Dauer als
einerseits sehr konkreter, anderseits aber auch als deutlich männlich
fetischisierter Begriff von "Frau" erscheint.
Nekes ist einer der vielen Avantgardisten, die im Zuge ihrer
Experimentalfilmtätigkeit seit den frühen 70er Jahren ihre Praxis mit der
Arbeit an einer Theorie des Kinos verbanden. Von Semiotik und
Informationstheorie geleitet, kreist seine Herangehensweise lange um die
kleinsten informationsgeladenen filmischen Einheiten und die
nichtnarrativen, dem Medium eigenen Artikulations- und Illusionsformen, die
sich aus ihnen ableiten lassen. "Kineme" nennt Nekes diese kleinsten
Einheiten, was die Differenz zwischen zwei unterschiedlichen Bildern
bezeichnet, die, wenn sie rasch hintereinander erblickt werden, wegen der
Trägheit des menschlichen Auges etwas Drittes erzeugen, ein Nachbild.
Zum Nachbild hin und zum essenziell filmischen Ausdruck, der sich mit dem
Unbewussten des Zuschauers verschwägern soll, drängen so die meisten von
Nekes Filmen. Die Informationen überstürzen sich dabei. Als Zuschauer meint
man, einem Wahrnehmungsterror ausgesetzt zu sein, der bisweilen mit einem -
gefühlten - erhobenen Zeigefinger verbunden ist. Der Inhalt der Filme ist
die Art, wie man Filme schauen soll.
Diese doch oft nervende Pädagogik konnte ich in Breslau oft allein wegen
der Musik noch aushalten. "Jüm-jüm" (1967), der kurze Einstellungen von
Dore O. vor einem flächig gemalten Phallus auf einer Schaukel zeigt,
verblüffte mich mit aggressiv perkussiver Rhythmik. Die krassen, schnellen
Schläge liegen oft auf den Schnitten, bisweilen trennen sie sich aber auch
davon und lassen eine fröhlich-derbe Asynchronität entstehen. Auch "gurtrug
Nr. 1" von 1967, in dem 26 Personen auf einer leicht von oben aufgenommenen
Wiese verqueren, richtungslosen Tätigkeiten nachgehen, machte mir viel
Spaß. Die Leute hüpfen, springen, laufen und tanzen. Vorne, am unteren
Bildrand, sind manchmal ein paar Pferde erkennbar, die das seltsame Treiben
beobachten, dem eine kleine orgellastige Beatmusik übergestülpt ist, die
wie von Booker T and the MGs klingt.
Vielleicht ist das Herzstück der Retrospektive nicht das bisweilen schlecht
gealterte Filmwerk, sondern die von Nekes zusammengestellte Ausstellung
"Rub your eyes". Sie ist bis zum 28. August zu sehen und zeigt Staunen
machende Objekte aus Nekes berühmter Sammlung präkinematografischer
Apparate. Man reibt sich oft die Augen angesichts der Spielzeuge,
Wundertrommeln und Laternae magicae. Diese sind in der großen
Ausstellungshalle in der Awangarda Gallery im Stadtzentrum nach technischen
und wahrnehmungsspezifischen Gesichtspunkten gruppiert.
Ein zweiter Teil der Ausstellung, in einem separaten Gebäude gezeigt,
widmet sich den erotischen bis pornografischen Aspekten der Bild- und
Illusionsmaschinen aus Nekes Sammlung. Hier kann man auch Ausschnitte aus
seiner sechsteiligen Reihe "Media Magica" sehen, sehr sorgfältig
gearbeitete Filme, die die Objekte der Sammlung präsentieren. In ihrer
Summe erzählen sie eine Geschichte des Kinos vor dem Kino.
3 Aug 2011
## AUTOREN
Michael Baute
## TAGS
Hamburg
Dokumentarfilm
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