# taz.de -- Schulkompromiss in NRW: "Wir stärken den Elternwillen" | |
> Die Regierung in NRW hat sich auf einen Schulkompromiss geeinigt. | |
> Ministerin Löhrmann (Grüne) verteidigt sich gegen Vorwürfe, sie habe die | |
> Ideale ihrer Partei verraten. | |
Bild: "Wir haben überhaupt nichts geopfert." | |
taz: Frau Löhrmann, kennen Sie den Satz: "Mit dem Festhalten am | |
gegliederten Schulsystem werden Kindern systematisch Bildungschancen | |
vorenthalten." | |
Sylvia Löhrmann: Der könnte von mir sein. | |
Genau. Wie kommt es, dass ausgerechnet Sie das gegliederte Schulsystem in | |
der Landesverfassung zementieren wollen? | |
Die Gliederung des Schulsystems steht schon in unserer Verfassung. Dass wir | |
die Gliederung mit der CDU nicht aus der Verfassung bekommen, war klar. Wer | |
was anderes erwartet hätte, der wäre naiv. | |
Sie haben sich von der CDU über den Tisch ziehen lassen? | |
Überhaupt nicht. Wir nehmen integrierte Schulformen erstmalig in die | |
Verfassung auf. Das ist doch ein Fortschritt. Die CDU wollte ursprünglich | |
Gymnasien und Realschulen in der Verfassung verankern; das haben wir | |
verhindert. Vor allem haben wir erreicht, dass die Hauptschulgarantie | |
gestrichen wird. Für diesen entscheidenden Schritt brauchen wir die CDU. | |
Sie haben für die Grünen stets verkündet, Ihr Ziel sei eine Schule für alle | |
Kinder. Dieses Ziel haben Sie dem Kompromiss geopfert, oder? | |
Nein, wir haben überhaupt nichts geopfert. Wir machen pragmatische Politik | |
und schaffen mit der Sekundarschule eine neue, starke, zukunftsfeste | |
Schule, in der alle Kinder willkommen sind, in der sich Elemente aller | |
bisherigen Schulformen wiederfinden. Allen Kindern unabhängig von ihrer | |
sozialen Herkunft wird - ohne die Selektion nach der Klasse 4 - der Zugang | |
zu allen Bildungsabschlüssen eröffnet. | |
Und dazu brauchen Sie die Sekundarschulen - zusätzlich zu Gesamt- und | |
Gemeinschaftsschulen. Verwirrend. Erklären Sie doch bitte, was in einer | |
Sekundarschule anders ist als in einer Gesamtschule, wie sie seit 40 Jahren | |
in NRW existiert. | |
Die Sekundarschule kann mit drei Klassen gegründet werden, während die | |
Gesamtschule mindestens vier Parallelklassen braucht. Für die kleineren | |
Gemeinden auf dem Land, wo die Schülerzahlen stark zurückgehen, ist das ein | |
entscheidender Faktor. | |
Abgesehen davon kapieren die Eltern aber doch gar nicht, was im Unterricht | |
anders ist. | |
Richtig ist: Die Kinder bekommen an der Sekundarschule ein ähnliches | |
Angebot wie an der Gesamtschule. In Klasse fünf und sechs wird gemeinsam | |
gelernt, und an den Sekundarschulen ist dies sogar bis zur Klasse zehn | |
möglich. | |
Das ist an Gesamtschulen nicht möglich? | |
Doch, einzelne machen das, aber die meisten differenzieren in E- und | |
G-Kursen. Die Gemeinschafts-, ich meine die Sekundarschule, ich verspreche | |
mich da manchmal noch, kann auch äußere Differenzierungen vornehmen, muss | |
es aber nicht. | |
Selbst Sie als Bildungsministerin versprechen sich, wie sollen die Eltern | |
da durchblicken? Eines ist jedenfalls klar: Die Gymnasien werden gestärkt. | |
Die Gymnasien sind so stark, wie sie durch den Elternwillen gemacht werden. | |
Aber auch sie verändern sich und müssen sich auf eine heterogenere | |
Schülerschaft einstellen. Für ein Gymnasium wird es zukünftig nicht mehr | |
nur darauf ankommen, Kinder zum Abitur zu führen, sondern jeden | |
Jugendlichen mindestens zu einem mittleren Bildungsabschluss zu bringen und | |
auf Abschulung zu verzichten. | |
Das Abschulen wird verboten? | |
Wir wollen das Abschulen abbauen, und zwar an und im Diskurs mit den | |
Gymnasien. Das ist das einstimmige Ergebnis der NRW-Bildungskonferenz. | |
Die Gymnasien werden also keine neuen Einheitsschulen? | |
Die Gymnasien entwickeln sich weiter. Wenn Sie sich beispielsweise das mit | |
dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Genoveva-Gymnasium in Köln | |
anschauen. Das war eine Schule, die wahrscheinlich auf Grund ihrer Lage im | |
sozialen Brennpunkt über kurz oder lang nicht mehr hinreichend angenommen | |
worden wäre. Sie hat sich aber im Ganztag enorm weiterentwickelt. Dort | |
haben siebzig Prozent der Jugendlichen eine Zuwanderungsgeschichte, und sie | |
werden dort gut gefördert und zu einem guten Schulabschluss geführt. Auch | |
das verstehe ich unter innovativer Schulentwicklung. | |
Von Ihrem Berliner Parteifreund Özcan Mutlu stammt der Satz, eher werde in | |
Deutschland das Biertrinken abgeschafft als das Gymnasium. Haben sich nach | |
der SPD in den 70er Jahren jetzt auch die Grünen daran die Zähne | |
ausgebissen? | |
Die Grünen stehen für eine Ermöglichungsstrategie, und als Koalition haben | |
wir stets betont, dass wir keine Schulform abschaffen. Ich persönlich halte | |
überhaupt nichts davon, Schulen und Schulformen gegeneinander auszuspielen. | |
Wie überzeugen Sie den Professor, seine Tochter demnächst auf die | |
Sekundarschule zu schicken und nicht doch lieber auf das Gymnasium? | |
Wer wie wir den Elternwillen stärkt, kann ihnen doch nicht auf der anderen | |
Seite eine Schule vorschreiben oder verbieten. Ich weiß jedoch, dass viele | |
Eltern mit der auf acht Jahre verkürzten Gymnasialzeit unzufrieden sind, | |
und sie ihre Kinder lieber ein Jahr länger zur Schule schicken wollen, | |
damit sie ein gutes Abitur machen. Ein attraktives, umfassendes und | |
wohnortnahes Angebot der Sekundarschule wird Eltern aller Schichten | |
überzeugen. | |
Ein Problem ist doch, dass die Sekundarschulen keine eigene gymnasiale | |
Oberstufe haben werden. Das hat sich die rot-grüne Regierung von der CDU | |
diktieren lassen, die das Gymnasium für ihre Klientel stärken will. | |
Es wurde überhaupt nichts diktiert, sondern wir haben gemeinsam überlegt, | |
wie wir unser Schulsystem zukunftsfest machen. Wer sein Kind an einer | |
Sekundarschule anmeldet, weiß, wo es das Abitur machen kann, weil es | |
verbindliche Kooperationen mit einer Oberstufe gibt. | |
Werden die Sekundarschulen besser ausgestattet sein als die Gymnasien? | |
Darum haben wir lange gerungen. Es gibt jetzt aus unserer Sicht ein gutes | |
Angebot: Die Sekundarschulen und neuen Gesamtschulen gehen mit nur 25 | |
Schülern pro Klasse an den Start, an Gymnasien sind es zurzeit noch 28. | |
Mittelfristig passen wir die Klassenfrequenzen überall an. | |
Das Problem der sozialen Auslese bleibt mit dem Nebeneinander von | |
angesehenen Gymnasien und zu Sekundarschulen umgetauften Haupt- und | |
Realschulen aber doch bestehen? | |
Die Sekundarschule bietet auch gymnasiale Standards und arbeitet mit einem | |
völlig anderen pädagogischen Konzept. Und was die Gelingensbedingungen | |
angeht: Dort, wo sozial schwierigere Milieus vorliegen, bekommen die | |
jeweiligen Schulen, die sich dieser Herausforderungen in besonderer Weise | |
annehmen, zusätzliche Mittel. | |
Derzeit verlassen 11.922 Schüler in Nordrhein-Westfalen die Schule ohne | |
Abschluss - vorwiegend aus Haupt- und Förderschulen. Wie viele Schüler ohne | |
Abschluss werden Sie in den nächsten Jahren haben? | |
Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, in den nächsten zehn Jahren die | |
Zahl der Schulabbrecher und Jugendlichen ohne Schulabschluss zu halbieren. | |
Das hat Angela Merkel schon vor drei Jahren verkündet. Die Hauptschule will | |
sie ebenfalls abschaffen. Was unterscheidet die Grünen eigentlich | |
bildungspolitisch noch von der CDU? | |
Wir glauben an die Chancen der Heterogenität, an Vielfalt. Die CDU fügt | |
sich aufgrund der demografischen Entwicklung in einen Prozess, der für sie | |
ein großer Schritt ist. Wir haben erreicht, dass Kinder länger gemeinsam | |
lernen. Das auszubauen ist, wofür die Grünen angetreten sind. Es wird Orte | |
geben, wo es nur eine Sekundarschule oder auch nur eine Gesamtschule gibt. | |
Wir werden andere Regionen haben, in denen es eine größere Vielfalt von | |
Schulformen gibt. Das finde ich angesichts der Größe Nordrhein-Westfalens | |
auch in Ordnung. | |
3 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
P. Beucker | |
A. Lehmann | |
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