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# taz.de -- Dokumentarfilmerin Gisela Tuchtenhagen: "Ich bin überhaupt nicht b…
> Die Hamburgerin Gisela Tuchtenhagen war eine der ersten Frauen hinter der
> Dokumentarfilm-Kamera überhaupt. Ein Montagsinterview über das Glück im
> Nahen und im Fernen, das Zuhören mit der Kamera und die Überwindung von
> Toilettenproblemen.
Bild: "Nicht alles in meinem Leben war spontan": Gisela Tuchtenhagen.
taz: Frau Tuchtenhagen, wie gut sprechen Sie Platt?
Gisela Tuchtenhagen: So gut wie schlechtes Englisch. Ich kann mich
verständlich machen.
In Ihrem neuesten Dokumentarfilm auf plattdeutsch, den sie zusammen mit
Margot Neubert-Maric gedreht haben, zeigen Sie die Welt der Bingo-Frauen in
Norddeutschland. Das Leben dieser Witwen dreht sich vor allem um ihre
geliebten Fahrten zum Bingo nach Dänemark. Wie haben Sie das Vertrauen
dieser einfachen Frauen vom Land gewonnen?
Das kommt nach einer Weile eben. Margot und ich, wir drangsalieren sie ja
nicht. Wir geben keine Anweisungen, wir sagen nicht, geh mal von da nach
da. Wir lassen sie, wie sie sind. Und außerdem sind wir zwei auch
sympathisch. (Sie lacht. Gisela Tuchtenhagen spricht während des Gesprächs
langsam und sehr leise, manchmal flüstert sie fast.)
Im Film geht es, grob gesagt, um die Vorstellung dieser Frauen von Glück.
Eine von ihnen sagt, sie bräuchte im Leben Freude, ein Dach über dem Kopf,
eine warme Stube, was zu essen und zweimal im Monat eine Fahrt zum
Bingo-Spiel. Sind Sie auch so bescheiden?
Nein, ich brauche definitiv mehr als zweimal im Monat Bingo. Ich bin
überhaupt nicht bescheiden, das ist nicht materiell gemeint. Ich will mich
immer entwickeln, ich will keinen Stillstand.
Sie sind in einem Barackenbau in Schleswig-Holstein aufgewachsen. Waren Sie
ein glückliches Nachkriegskind?
Meine Mutter ist mit mir und meinen vier Geschwistern von Pommern nach
Schleswig-Holstein geflüchtet, wir wohnten in einem Barackenlager bei
Heide. Ja, da war ich glücklich, wir sind praktisch in der Natur
aufgewachsen. Mein Vater war da noch in französischer Kriegsgefangenschaft.
Erst 1949 kam er wieder. Was dann mit unserer Familie passierte, war die
typisch deutsche Geschichte: Meine Mutter, die starke Frau, die sie war,
mein Vorbild, wurde plötzlich ganz schwach. Mein Vater kam, und sie hat ihn
zum König erhoben. Beide waren auf ihre Art hilfebedürftig und haben nicht
wieder zueinander gefunden, es gab viel Streit.
Hatten Ihre Eltern auch mit Ihnen Probleme?
Ja, vor allem wegen der Schule. Damals wurden wir ja noch von Nazis
unterrichtet. Ich war schwer erziehbar, haben alle gesagt.
Inwiefern?
Ich habe mit 13 angefangen zu rauchen, bin nachts nicht nach Hause
gekommen, solche Dinge eben.
Was haben Sie nachts gemacht?
Ich habe mich zu Freunden nach Hamburg geflüchtet.
Mit 13?
Na ja, vielleicht war ich auch 14. Dann bin ich in der neunten Klasse
endgültig von der Schule geflogen - damals eine Schande. Ich hatte die
Unterschrift meiner Mutter gefälscht. Ich wollte dann eine Tischlerlehre
machen, um Innenarchitektin zu werden oder das, was ich mir damals darunter
vorgestellt habe. Man sagte mir ab, mit der Begründung, es gebe keine
Toiletten für Mädchen. Irgendwann hat mein Vater meine Mutter so unter
Druck gesetzt, dass sie mich ins Erziehungsheim gesteckt hat. (Sie zündet
sich eine Selbstgedrehte an.)
Sie haben versucht, auszubrechen. In Hausschuhen, wie es heißt.
Ja, mehrere Male. Und Straßenschuhe hatten wir nicht, im Heim hatten wir ja
keinen Ausgang. Jede Tür dort war abgeschlossen. Ich wurde ganz sperrig und
musste entfliehen. Einmal hatte mich einer per Autostop mitgenommen und in
Hamburg bei der Polizei abgeliefert. Ein junges Mädchen in Puschen im
Winter, das macht ja auch keinen guten Eindruck. Beim dritten Mal hat es
dann geklappt, und ein paar Wochen später bin ich nach Paris abgehauen. Ich
habe meinem Bruder Geld gestohlen und mich in den Zug gesetzt.
Wo sind Sie denn dann hin in Paris?
Es gab damals eine Kneipe am Hamburger Gänsemarkt, da trafen sich alle
Existenzialisten. Von denen wusste ich genau, wo ich in Paris hingehen
muss. Ich hatte Glück. Ein Pärchen hat mich mit in ihr Hotel genommen, sie
haben auf das Nachbarzimmer gezeigt und gesagt: "Schlaf dort, der Bewohner
ist nachts nie da." Ich schlief dort, er kam jeden Morgen mit Koffern an
und sagte: "Komm, such dir ein paar Klamotten aus." Später stellte sich
heraus, er war ein Kofferdieb vom Gare du Nord.
Sie selbst haben in Paris aber keine Koffer geklaut?
Nein, ich habe von der Straßenkunst gelebt, wir waren eine Gruppe von
jungen Leuten, die auf der Straße gemalt hat und mit Musikern rumgezogen
ist. (Sie sucht nach einem Aschenbecher, findet keinen und ascht in ihre
Hand. Dann kippt sie die Asche in einen Blumentopf.)
Später sind Sie ohne Abitur und Ausbildung sowohl an der Lette-Schule für
Fotografie angenommen worden und danach an der Deutschen Film- und
Fernsehakademie Berlin. So etwas wäre heute unvorstellbar.
Das war es damals auch schon. Meine Allgemeinbildung war viel zu schlecht
für beide Aufnahmeprüfungen. Ich kann mir nicht erklären, warum sie mich
jeweils genommen haben. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nie ein Foto
gemacht. Aber ich habe denen gesagt, mein Bruder sei Fotograf, und ich
würde für mein Leben gern fotografieren. Nach der Ausbildung dachte ich:
Meine Fotos sind mir so viel wert, ich will mit ihnen kein Geld verdienen.
Bei der Aufnahmeprüfung zur Filmakademie dann das gleiche Spiel. Wir
sollten eine Sequenzanalyse schreiben, und ich wusste weder, was eine
Sequenz noch, was eine Analyse ist. Da hat mir ein befreundeter Maler
geholfen, und wir wurden beide angenommen.
In der Ausbildung wurden Sie von Klaus Wildenhahn unterrichtet, dem Pionier
des deutschen Dokumentarfilms. Was hat Sie daran fasziniert?
Anfangs überhaupt nichts, ich fand es total langweilig. Damals haben sich
die Macher in ihren Dokumentationen selbst ins Bild gesetzt, mit Mikro, und
gesagt, was man sowieso gesehen hat. Die Filme von Klaus waren ganz anders,
haben mich inspiriert. Von ihm habe ich gelernt, mit der Kamera zuzuhören,
zu beobachten und nicht einzugreifen.
Er hat Sie anfangs bei seinen Filmen hinter der Kamera eingesetzt, als eine
der ersten Frauen in diesem Männerberuf.
Das war damals wirklich ungewöhnlich. Mich hatte während eines Praktikums
der Chef-Kameramann vom NDR zur Seite genommen und nett gefragt, ob das
wirklich mein Berufsziel sei, Kameramann werden. Die müssten doch so viel
draußen in fremden Ländern arbeiten, und auch mal im Freien pinkeln.
Schon wieder ein Toiletten-Problem.
Stimmt. Und ich habe dann einen Artikel bei der Emma geschrieben mit der
Überschrift: "Am Pissen solls nicht scheitern".
Sie und Klaus Wildenhahn haben später viele sehr erfolgreiche Filme
gemeinsam gedreht, wurden ein Paar. Als Sie nach ein paar Jahren genug vom
Film hatten, sind Sie spontan Krankenschwester geworden.
Ja, die Ausbildung hat drei Jahre gedauert - eine bereichernde Zeit. Ich
war eine richtig gute Krankenschwester. Meine Patienten waren froh, weil
ich mir Zeit für sie genommen habe. Ich habe ihren Nachttisch
saubergemacht, Fotos aufgestellt, ihre Haare gekämmt. Aber mir war völlig
klar, dass ich nicht dauerhaft im Krankenhaus arbeiten kann. Nach fünf
Jahren ist man da absolut verbraucht.
Nach der Trennung von Klaus Wildenhahn haben sie zwei Kinder aus Peru
adoptiert. Auch spontan?
(Lacht.) Nein, nicht alles in meinem Leben war spontan. Ich wollte schon
sehr lange adoptieren, ich war bereit, Mutter zu werden. Und dann bin ich
nach Peru geflogen. Christian und Alfredo sind Brüder, sie waren damals
sechs Jahre alt, wir haben ein halbes Jahr in ihrer Heimat verbracht. Ich
konnte ihre ganze Familiengeschichte recherchieren, das hat uns eine gute
Basis geschaffen.
Früher wollten Sie immer weg, sind aus dem Heim ausgebrochen, nach Paris
abgehauen. Sie haben Beschneidungen im Sudan gefilmt und verhüllte
afghanische Frauen. Heute drehen Sie norddeutsche Filme auf platt. Haben
Sie abgeschlossen mit der Ferne?
Vielleicht. Mich hat es irgendwann nicht mehr weggezogen. Die Menschen hier
fesseln mich, von ihnen geht eine besondere Kraft aus.
Was machen Sie als Nächstes?
Nichts Norddeutsches: einen Film über die Arbeit des Münchener Dirigenten
Konrad von Abel und seine Schüler. Ich verfolge, wie sie an Stücken von
Ravel und Wagner arbeiten. Was hat es mit der Architektur eines Stückes auf
sich? Ich habe keine Ahnung von klassischer Musik, aber mittlerweile ahne
ich, dass es da viele Gemeinsamkeiten mit dem Dokumentarfilm gibt. Man kann
nie sicher sagen: "So, jetzt hab ichs." Mir geht es vor jedem neuen Projekt
so, dass ich denke: Ich kann nichts. Ich weiß nichts.
7 Aug 2011
## AUTOREN
Emilia Smechowski
Emilia Smechowski
## TAGS
taz Plan
Dokumentarfilm
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