# taz.de -- Neue politische Führung in Tibet: Die Teilung von Politik und Reli… | |
> Von der Dorfschule über eine Eliteuniversität zum Regierungschef: Das | |
> politische Sagen bei den Exiltibetern hat jetzt Lobsang Sangay. Für | |
> einige Tibeter ist das nicht einfach. | |
Bild: Die Exiltibeter haben einen neuen Regierungschef: Lobsang Sangay. | |
DHARAMSALA taz | Es ist sieben Uhr morgens. Der kleine Dorfplatz vor dem | |
tibetischen Exilparlament ist wie leergefegt. Nur ein paar Kinder warten | |
auf den Schulbus. Lobsang Sangay aber ist auch schon unterwegs. Der | |
42-jährige Harvard-Jurist trägt eine lange graue Robe mit grünen | |
Seidenmanschetten, darunter eine beiges Hemd mit Rundkragen. Auf den ersten | |
Blick erinnert der hochgewachsene, schlanke Tibeter an einen jungen Pastor. | |
Er wird in den nächsten zwei Tagen kaum Zeit finden, seine Robe abzulegen. | |
Eine Zeremonie wird der nächsten folgen. Denn Sangay, der Überflieger aus | |
dem lauschigen Darjeeling, der es von der indischen Dorfschule bis an die | |
berühmteste Universität der USA schaffte, übernimmt in diesen zwei Tagen | |
das politische Führungsamt des Dalai Lama. | |
Noch nie zuvor in der tibetischen Geschichte hat es das gegeben: Ein Dalai | |
Lama - vom traditionellen Glauben her das göttliche Oberhaupt aller Tibeter | |
- tritt seine Macht freiwillig an einen gewählten Politiker ab. Das ist | |
zumindest die offizielle Version. | |
Doch so einfach ist das nicht. Wer kann schon "Seine Heiligkeit", wie die | |
Tibeter den Dalai Lama nennen, ersetzen? Kein Mensch. Sangay will daran gar | |
nicht denken. "Nur einen Schritt vor den anderen setzen, wie ich es mein | |
ganzes Leben lang seit der Dorfschule getan habe" - das will Sangay an | |
diesem Morgen. | |
Er eilt im Regen über den Dorfplatz vor dem grünbedachten Exilparlament zum | |
Nechung-Kloster. Das Kloster liegt gleich hinter dem Parlament an einem | |
grünen, steilen Hang in den Vorbergen des Himalaya. Hier, in den Hügeln | |
über der indischen Stadt Dharamsala, residiert seit der Flucht des Dalai | |
Lama aus China im Jahr 1959 die tibetische Exilregierung. | |
## Er braucht den Segen der Götter | |
Doch führten Parlament und Regierung der Exiltibeter bislang immer ein | |
Schattendasein. Der Dalai Lama überstrahlte alles. Das soll, das will | |
Sangay nun ändern. Er weiß: Jeder erwartet, dass auch er strahlt. Umso mehr | |
braucht er den Segen der Götter im Nechung-Kloster, wo Götter und Mönche | |
zum Schutz über die Amtsgeschäfte der Regierung wachen. | |
Sangay zieht seine Schuhe aus und tritt neben acht sitzenden Mönchen in das | |
Kloster. Die Mönche, alt und jung, tragen orangefarbene Kutten, singen und | |
trommeln. Sie schauen nicht auf. Sangay tritt vor einen reich geschmückten | |
Altar mit Bildern des Dalai Lama und betet. Er verbeugt sich dreimal. Wenig | |
später sitzt er allein an einem Tisch vor einer goldenen Buddha-Figur. Die | |
Mönche servieren Buttertee und Reis mit Rosinen. Stille. | |
## "Tee schmeckt wie Suppe" | |
Doch Sangay ist kein Mönch, sondern Politiker "made in USA". Die letzten | |
fünfzehn Jahre lebte er fast ausschließlich in den USA. "Der Tee schmeckt | |
hier wie Suppe", teilt er amüsiert mit. Er setzt die Tasse zurück auf dem | |
silbernen Tassenständer vor ihm. Von dem deutschen Reporter will er wissen, | |
ob er Tourist sei. Eine naheliegende Frage. Das Bergdorf der Exiltibeter | |
namens Mcleodgunj, in das Sangay an diesem Tag einzieht, ist das ganze Jahr | |
voller Touristen. | |
Die morgendliche Einsamkeit im Nechung-Kloster ist denn auch schnell | |
vergessen. Bald sind die Gassen rund um den Haupttempel Tsuglagkhang in | |
Mcleadgunj verstopft. Tibetische Mönche in roten Kutten drängen zum Tempel, | |
tibetische Schüler in blaugrünen Uniformen und viele Touristen. Es sind | |
genau die Typen, die man hier erwartet: Japanerinnen in Wanderschuhen, | |
Amerikaner, wie immer in Shorts, und Deutsche in wallenden indischen | |
Gewändern. | |
Der große Tempel ist der Wallfahrtsort des Dalai Lama für seine Anhänger in | |
aller Welt. Er hat nichts mehr von der Strenge und Enge der tibetischen | |
Hochgebirgstempel. Der Tsuglagkhang ist nur noch eine große Freilichtbühne | |
unter einem riesigen weißen Zeltdach vor einem imposanten Wandgemälde des | |
Potala-Palastes in Lhasa. Doch die Stimmung an diesem Morgen ist prächtig. | |
Trotz des anhaltenden Monsunregens wollen alle den Nachfolger des Dalai | |
Lama feiern. | |
## Der Dalai Lama überstrahlt alles | |
"Zum ersten Mal feiern wir öffentlich einen Machtwechsel", sagt Migyur | |
Dorjee. Dorjee ist der Kabinettssekretär. Er steht am Mikrofon und leitet | |
mit schroffer Stimme die Zeremonie. Er ist der Beweis, dass auch eine | |
tibetische Exilregierung über ganz normale, pingelige Beamte verfügt. Doch | |
seine Stimme wird vom Jubel übertönt, als der Dalai Lama die Bühne betritt. | |
Eine Hälfte stürzt sich auf ihn. Die andere Hälfte kniet in Ehrfurcht | |
nieder. Am anderen Ende der Bühne aber sieht man Sangay stehen - er soll | |
der Held des Tages sein, doch in diesem Moment achtet niemand auf ihn. | |
Das aber ändert sich, als Sangay unter großem Applaus der dreihundert Jahre | |
alte Stempel des tibetischen Regierungschefs überreicht wird und er kurz | |
darauf erstmals an der rechten Seite des Dalai Lama Platz nehmen darf. Erst | |
jetzt erhebt sich "Seine Heiligkeit" und tritt zum Rednerpult. Der Dalai | |
Lama mustert die Gäste. Vor ihm eine alte westliche Starschreiberin, er | |
lächelt ihr zu. Hinter ihm ein indischer Provinzpolitiker, der immerhin | |
aussieht wie Nehru. Rechts von der Bühne die Getreuen aus Taiwan, Nepal und | |
der Mongolei. | |
Viele sind nicht gekommen, die Regierung in Peking hält sie zurück. Dabei | |
ist es ein wirklich wichtiger Tag für ihn - für ihn mehr als jeden anderen. | |
Denn er will ernst genommen werden. "Die Tibeter sind selbst die Herren | |
ihres Schicksals, und nicht ihre religiösen Führer", sagt der Dalai Lama. | |
Mucksmäuschenstill hängt jetzt das Publikum an seinen Lippen. Vor ihm steht | |
der Mann, den es liebt. Er ist wie immer: in roter Robe und Halbschuhen, | |
schelmisch, jovial, spricht ohne Manuskript. | |
## "Ich habe die Teilung von Religion und Politik umgesetzt" | |
Aber er macht auch klar, wie ganz besonders wichtig ihm der neue Mann neben | |
ihm ist. "Ich werde jetzt reden können, was ich will", scherzt er - und | |
will damit sagen: Es ist egal, was ich sage - das Sagen hat jetzt Sangay. | |
"Ich habe die Teilung von Politik und Religion jetzt umgesetzt", sagt der | |
Dalai Lama. | |
Kein Applaus. Niemand will das hören. Aber dem Dalai Lama kann man nicht | |
widersprechen. Also wird Sangay höflich von seiner neuen Anhängerschar | |
begrüßt. Die Exiltibeter haben ihn schließlich in der ersten demokratischen | |
Direktwahl eines tibetischen Regierungschefs im Frühjahr gewählt. Seine | |
Gegenkandidaten waren alle älter. Er aber versprühte Aufbruchsgefühle. Kann | |
er sie jetzt erneut wecken? | |
Sangay redet zuerst auf Tibetisch. Das kann er nicht so gut. Er muss sich | |
die tibetische Schrift nah vor die Augen halten und jedes Wort ablesen. | |
Erst als er die Rede noch einmal auf Englisch hält, bekommen seine Wörter | |
Nachdruck und Emphase. Nur jetzt versteht ihn der größte Teil des Publikums | |
nicht mehr. Das Problem aber ist symptomatisch für die tibetische | |
Exilbewegung: Sie ist so weitgehend internationalisiert, dass Englisch ihre | |
wichtigste Sprache ist. | |
Als Kalon Tripa, wie sich der tibetische Regierungschef seit dem 18. | |
Jahrhundert nennt, soll Sangay jedoch vor allem auch den Kontakt zu den in | |
China lebenden Tibetern halten, die in der Regel kein Englisch reden. In | |
China leben 6 Millionen Tibeter, im Exil 150.000. Gewählt haben ihn nur | |
Letztere. Was also mit China tun? | |
## Sangay hat enge Kontakte nach China | |
Das aber ist jetzt nicht Thema. Zu seiner feierlichen Amtseinführung hält | |
Sangay eine Kampfrede. Er schimpft auf Peking und preist das Heldentum der | |
Tibeter. Nur einmal mahnt er, China nicht zu verteufeln und der | |
chinesischen Nation mit Respekt zu begegnen. Insofern hält er dann doch | |
Balance: zwischen der Radikalität der Exilbewegung und der notwendigen | |
Gesprächsbereitschaft mit Peking. Genau dafür aber hat ihn der Dalai Lama | |
ausgewählt. | |
Sangay hat in seinen Harvard-Jahren enge Kontakte nach China aufgebaut - | |
bis in die besten Pekinger Universitäten und Thinktanks hinein, die | |
wiederum direkt mit der chinesischen Regierung zusammenarbeiten. An diese | |
Kontakte soll er nun in seinem neuen Amt anknüpfen. | |
Sangay weiß das. "Die Lage in China und Tibet hat Priorität", sagt er, | |
nachdem er an zwei Tagen sämtliche Zeremonien durchlaufen hat und ihm | |
Hunderte von weißen tibetischen Gebetsschals um den Hals gehängt wurden. | |
Die vielen Schals liegen nun alle auf seinen Schreibtisch im nagelneuen | |
Regierungsgebäude des Kalon Tripa. Von hier schaut man über einen | |
Rosenbalkon hinunter ins Tal. | |
Sangay hat zum ersten Mal nach seinem morgendlichen Gang zum | |
Nechung-Kloster wieder Ruhe gefunden. Er erzählt von seinem Vater, der | |
schon 1956 vom Kloster in die Guerilla gegen die kommunistischen Besatzer | |
Tibets wechselte. Später floh die Familie nach Darjeeling in Indien. Der | |
Vater, so Sangay, brachte ihm eine romantische Tibet-Vorstellung und den | |
Hass auf China und seine Kommunisten bei. | |
Doch inzwischen habe er sich verändert, sagt Sangay, er sehe auch positive | |
Entwicklungen in China. "Vielleicht habe ich mehr Informationen über das | |
heutige China als der Dalai Lama", sagt Sangay. Das aber klingt schon fast | |
so, als habe der Dalai Lama wirklich einen Nachfolger gefunden. | |
10 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tibetische Minderheit in Nepal: Pekings Macht in Kathmandu | |
Die Repressalien gegen die tibetische Minderheit haben unter der | |
maoistischen Regierung in Nepal zugenommen. Menschenrechtler fürchten | |
wachsende autoritäre Tendenzen. | |
Selbstverbrennungen von Mönchen: Neue Tibet-Politik gefordert | |
Menschenrechtsorganisationen fordern von Peking ein Ende der Repression in | |
Tibet. Seit März haben sich neun Mönche und zwei Nonnen aus Protest selbst | |
angezündet. | |
Selbstverbrennung aus Protest: Tibetisches Kloster abgeriegelt | |
Ein tibetischer Mönch im Südwesten des Landes wollte mit seiner Tat ein | |
Zeichen für die Freiheit setzen. Paramilitärische Einheiten der Polizei | |
patrouillieren in den Straßen der Stadt Dawu. | |
China feiert Tibets "friedliche Befreiung": Kampfaufruf gegen Dalai Lama | |
Vor 60 Jahren ist die China Armee in Tibet einmarschiert. Das wird auf | |
einer Großveranstaltung in Lhasa gefeiert - mit Drohungen gegen den Dalai | |
Lama. | |
60. Jahrestag der "Befreiung" Tibets: Eitel Harmonie auf dem Dach der Welt | |
Das offizielle China feiert diese Woche den 60. Jahrestag der "friedlichen | |
Befreiung" Tibets. Und wehe, ein Tibeter hat dazu eine andere Meinung. | |
Exiltibeter haben neuen Führer gewählt: Politischer Nachfolger des Dalai Lama | |
Die Exiltibeter haben einen neuen politischen Führer: Er heißt Lobsang | |
Sangay, ist 42 Jahre alt und arbeitete bislang als Professor für | |
Rechtswissenschaft. | |
Exiltibeter wählen neue Regierung: Wahlkampffieber am Himalaja | |
In ihrer indischen Hochburg Dharamsala diskutieren die Exiltibeter vor der | |
Wahl am Sonntag heftig. Auch wegen des angekündigten Rückzugs des Dalai | |
Lama. |