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# taz.de -- Autor Etgar Keret über Proteste und Terror: "Israels Linke wird si…
> Die Demonstrationen gegen soziale Ungleichheit in Tel Aviv und andernorts
> sind nicht am Ende, meint der Schriftsteller Etgar Keret. Der Terror aber
> spielt Netanjahu in die Hände.
Bild: "Die meisten Leute, die jetzt auf die Straße gehen, sind jünger als ich…
taz: Herr Keret, die Massenproteste der letzten Wochen waren die größten,
die Israel je gesehen hat. Bis zu 300.000 Menschen haben sich daran
beteiligt, am Mittwoch kam die Knesset deshalb zu einer Sondersitzung
zusammen. Wie geht es jetzt weiter?
Etgar Keret: Schwer zu sagen. Tatsache ist, dass diese Bewegung unsere
Erwartungen mehrfach übertroffen hat. Aber wir leben in einer sehr fragilen
und unsicheren Region. Ein Ereignis wie die Anschläge in Eilat und die
Reaktion Israels, das daraufhin Kampfbomber in den Gazastreifen
losgeschickt hat, reicht da oft schon aus, um die Tagesordnung von einer
Minute auf die andere zu verändern. Dann heißt es, wir können jetzt nicht
über solche Sachen sprechen, sonst stehst du schnell als eine Art
Vaterlandsverräter da.
Sie meinen, jede politische Eskalation spielt Netanjahu in die Hände?
Ich möchte nicht wie ein Verschwörungstheoretiker klingen. Aber Netanjahu
kann nichts Besseres passieren, um von diesen Protesten abzulenken. Ich
glaube auch, dass es diese Regierung kaum erwarten kann, dass die
Palästinenser im September ihren Wunsch nach Staatengründung vor die UNO
bringen, um die Furcht vor einer dritten Intifada anzustacheln. Auch Assad
in Syrien käme es sicher sehr gelegen, wenn der Nahostkonflikt wieder
angeheizt würde. Wir sind ja nicht die Einzigen in der Region, die
paranoide Führer besitzen.
Woran liegt es, dass diese Protestbewegung so rapide anwuchs?
Es gab in Israel schon früher große Demonstrationen. Aber je nachdem, wer
dazu aufrief, wusste man, wer kommen würde. Das war jetzt anders, hier
kommen die unterschiedlichsten Leute auf der Straße zusammen.
Viel ist die Rede davon, dass die Proteste ein neues Gemeinschaftsgefühl
bewirkt hätten. Aber nicht alle haben sie begrüßt: Droht da nicht eine neue
Spaltung der Gesellschaft?
Die Tycoons, die Siedler und die Ultraorthodoxen verfolgen die Proteste
sicher mit Unbehagen. Die israelische Politik wird sehr stark von
Interessengruppen bestimmt - und sie gehören zu den am besten organisierten
Interessengruppen, weshalb sie einen überproportionalen Einfluss besitzen.
Jetzt organisieren sich die anderen: Das bringt den Status quo in Gefahr.
Der rechte Außenminister Lieberman hat bereits vorgeschlagen, noch mehr
Siedlungen in den besetzten Gebieten zu bauen, um das Wohnungsproblem zu
lösen.
Das war eine seiner üblichen Provokationen. Ich glaube nicht, dass er das
selbst ernst gemeint hat. Tatsache ist, dass Israel zu wenig Geld für
soziale Zwecke ausgibt und dafür viel Geld in den Siedlungsbau und das
Verteidigungsbudget steckt - sicher viel mehr als in Deutschland zum
Beispiel.
Die massive staatliche Förderung des Siedlungsbaus, der riesige Etat der
Armee und die Subvention der Ultraorthodoxen waren bisher Tabus. Wer sollte
sie antasten wollen?
Israel ist ein sehr ungewöhnliches Land, weil nur die Hälfte der
Bevölkerung arbeitet. Das heißt, eine relativ kleine Gruppe, die
Mittelschicht, muss die ganze Last schultern. Sie arbeitet und zahlt viele
Steuern - wenn man es ins Verhältnis setzt sogar mehr als die Reichen. Hier
muss eine gerechtere Lösung gefunden werden.
Muss Netanjahu wegen der Proteste ernsthaft um sein Amt fürchten?
Diese Regierung hat sich von der Bevölkerung komplett entfremdet. Im
Parlament erlässt sie ein Gesetz nach dem anderen, dass die
Meinungsfreiheit einschränkt und ausländische Arbeitnehmer oder die
arabische Minderheit drangsaliert. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der
Israelis diese Gesetze ablehnen. Diese Proteste sind ein Weckruf, der
warnt, dass die Leute damit nicht einverstanden sind.
Zeugt der Protest auch vom Wunsch nach der Rückkehr zu Israels eher
sozialistischen Wurzeln?
Die meisten Leute, die jetzt auf die Straße gehen, sind jünger als ich.
Aber sie hegen eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach einer Zeit, die sie
selbst gar nicht erlebt haben und die sicher auch nicht perfekt war. Bis
1977 war Israel ja praktisch ein sozialistisches Land. Als Teenager habe
ich nie einen Obdachlosen gesehen. Heute sieht man viele in Israel. Diese
Regierung hat es nun so weit gebracht, dass sich die meisten Bürger
vernachlässigt und betrogen fühlen - die Armen, die Mittelschicht, die
Holocaust-Überlebenden, deren Pensionen kaum zum Leben reichen. Eigentlich
jeder, der nicht ultraorthodox, Siedler oder ein rechter Fundamentalist
ist. Und für die Ultraorthodoxen gilt das auch nur bedingt, denn die
meisten von ihnen sind arm. Sie bekommen spezielle Zuschüsse, zugleich sind
unter Netanjahu die indirekten Steuern stark gestiegen. Meine Schwester ist
ultraorthodox und hat 11 Kinder - die leidet sehr stark darunter.
"Die Nation will soziale Gerechtigkeit", so lautet der zentrale Slogan der
Proteste. Gilt dieser Ruf auch für Israels arabische Minderheit?
Als Linker bin ich natürlich der Meinung, dass sich soziale Gerechtigkeit
nicht allein auf Juden beschränken darf. Und in gemischten Städten wie
Haifa nehmen auch viele arabische Israelis an den Protesten teil. Aber
getragen wird die Bewegung von der Mittelschicht und den Studenten.
Was bedeuten die Proteste für die Linke in Israel? Gibt es sie noch?
Ich habe mit vielen Anführern der Protestbewegung gesprochen. Viele haben
sich bei den letzten Wahlen enthalten. Jetzt gibt es Hoffnung, dass daraus
eine neue linke Kraft entstehen könnte. Denn wenn dieser Schwung weiter
anhält, wird das entweder zu einer neuen linken Partei führen oder zur
Erneuerung der bestehenden.
Was heißt das für den Friedensprozess mit den Palästinensern?
Nach dem Scheitern der Verhandlungen im Juli 2000 in Camp David und der
Zweiten Intifada hatten viele Linke das Gefühl, dass sich der Konflikt mit
den Palästinensern nicht lösen lasse. Sie haben sich zurückgezogen und
resigniert. Jetzt aber sagen sich viele: Warum nicht zunächst einmal den
einfacheren Kampf führen? Das könnte die gleichen Leute dazu motivieren,
sich auch schwierigeren Themen zuzuwenden.
21 Aug 2011
## AUTOREN
Daniel Bax
Daniel Bax
## TAGS
Daniel Kehlmann
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