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# taz.de -- Kinderbuch von Per Olov Enquist: Pipi-Kacka-Witze vom Klo
> Ein neues und ein wieder aufgelegtes frühes Buch laden dazu ein, das
> Gesamtwerk des schwedischen Großschriftstellers Per Olov Enquist näher zu
> betrachten.
Bild: Zeigt in seinen Büchern ein unzuverlässiges Ich: Per Olov Enquist.
Von einer reinen Literatur zu sprechen, so wie manchmal von einer reinen
Kunst die Rede ist (was nicht heißt, dass es die gäbe), würde wohl
niemandem einfallen. Die Literatur ist fast niemals nur Kunst als Kunst.
Sie ist die Kunst der subjektiven Weltbetrachtung, des Fragenstellens, des
Zweifelns. Sie ist eine Ich-Kunst, aus der, auch wo sie nicht explizit der
Selbstvergewisserung dient, auch wo sie sich gerade in vollendeter
Unparteilichkeit versucht, sich ihr Urheber niemals wirklich herausnehmen
kann. Vom Standpunkt des Betrachters lässt sich schreibend nicht
abstrahieren.
Sehr wenige Schriftsteller machen die Fragwürdigkeit des eigenen
Standpunkts - oder das Fragwürdige an der Selbstverständlichkeit, mit der
er eingenommen wird - immer wieder so deutlich wie Per Olov Enquist.
Umgekehrt wird bei diesem Autor auch das Autobiografische sehr explizit zum
Material der Literarisierung. Eindrucksvoll zeigt sich dieses Prinzip der
kunstvollen Durch- und Verformung eigenen Erlebens vor allem in Enquists
Roman "Kapitän Nemos Bibliothek" (dt. 1994) sowie in seiner großartigen
literarischen Autobiografie "Ein anderes Leben" (dt. 2009), zwei Büchern,
die über weite Strecken eine Art Zwillingsroman bilden. Während der Roman
Kindheitserlebnisse des Autors in fiktionalisierter, teils verschlüsselter
Form verarbeitet, nimmt "Ein anderes Leben" viele dieser Motive wieder auf,
um sie in autobiografischer Klartextvariante nochmals zu erzählen.
Es ist wahrscheinlich kein Wunder, dass ein Schriftsteller, der so stark
die Notwendigkeit verspürt, beim Schreiben Rechenschaft über den eigenen
Standpunkt abzulegen, sich einen Namen als Autor historischer Romane
gemacht hat ("Der fünfte Winter des Magnetiseurs", "Der Besuch des
Leibarztes", "Das Buch von Blanche und Marie", "Lewis Reise"). Die sichere
zeitliche Entfernung vom Gegenstand des Schreibens muss ihn der Pflicht
enthoben haben, jederzeit auf der Hut vor sich selbst zu sein. Das
Schreiben über Vergangenes als Urlaub von der Unbestechlichkeit im
Verhältnis zum Heute.
Dass der Hanser Verlag jetzt, zeitgleich zum Erscheinen der Übersetzung von
Enquists neuem Kinderbuch "Großvater und die Schmuggler", auch seinen
frühen Roman "Die Ausgelieferten" neu aufgelegt hat, rundet in gewisser
Weise bereits das Gesamtwerk ab.
## Literatur und Politik
Mehr als 40 Jahre liegen zwischen der Entstehung beider Bücher. "Die
Ausgelieferten" (1968 erschienen, dt. erstmals 1969), das sowohl ganz am
Anfang von Enquists Karriere stand als auch in der Ich-Frage eine ziemlich
radikale Position einnimmt, behandelt ein schwedisches nationales Trauma -
die Auslieferung von nach Schweden geflüchteten baltischen Offizieren, die
im Zweiten Weltkrieg in deutschen Regimentern gedient hatten, an die
Sowjetunion. Während die Regierung am einmal gefassten
Auslieferungsbeschluss festhielt, gab es in der öffentlichen Meinung eine
starke Gegenströmung, die teilweise geradezu hysterische Züge annahm.
Dies ist jedenfalls der Eindruck, den man aus "Die Ausgelieferten" gewinnt.
Aus heutiger Sicht erhellend bei der Lektüre dieses detailliert
recherchierten historisch-dokumentarischen Romans ist die Einsicht, wie eng
doch Literatur und Politik miteinander verzahnt sein können. Enquists
Verleger hatte, als das Buch 1968 wenige Monate nach der Niederschlagung
des Prager Frühlings herauskam, zunächst sogar gezögert, es wie geplant
erscheinen zu lassen, da man nicht als allzu sowjetfreundlich auffallen
wollte - das ist aus "Ein anderes Leben" zu erfahren, das sehr gut auch als
kommentiertes Werkverzeichnis gelesen werden kann. Die Befürchtung erwies
sich jedoch als unzutreffend. Und "Die Ausgelieferten" machte
internationale Karriere als Glanzstück innerhalb des Genres des
dokumentarischen Romans.
Enquist hatte sich - auch das eine nachgetragene Information in "Ein
anderes Leben" - sein Thema gesucht, um in der politisch erregten
Atmosphäre der 60er Jahre ein Stück engagierte Literatur zu schaffen, das
ein eigenes, schwedisches Trauma behandeln würde. Etwas, das, ähnlich wie
Vietnamkrieg und Bürgerrechtsbewegung in den USA, für die schwedische
Öffentlichkeit "mit Schmerzen verbunden" wäre. Sich selbst bringt der Autor
in der dritten Person in den Text ein, als "der Untersucher" oder "der
Verfasser", jederzeit kenntlich mit seinen Zweifeln, seinen Fragen, seiner
Grübelei, ob er dem Material, das er anhäuft, tatsächlich neutral begegnen
kann.
Natürlich kann er es nicht. Natürlich sind es vorgefasste Meinungen und
politische Haltungen, die ihn leiten, seine Darstellung prägen, ihn
überhaupt bewogen haben, das heiße Eisen zu bearbeiten. Durch die konstante
Hinterfragung der eigenen Rolle aber macht der "Untersucher" seine eigene
Position implizit ebenfalls zum Gegenstand der Untersuchung. Der Gefahr der
Pseudodokumentarität wird dadurch sehr weitgehend entgegengewirkt; als
Leser werden wir geschult, dem Dargestellten mit entschiedener Skepsis zu
begegnen. Die Skrupulosität dieses Erzählansatzes verleiht der Darstellung
eine große innere Spannung und ihrem historischen Detailreichtum, den man
ansonsten vielleicht manchmal als ermüdend wahrnähme, eine zwingende
Notwendigkeit.
## Das Er und das Ich
Auf die Spitze getrieben ist das Prinzip der skeptischen Selbstbeschau in
Enquists autobiografischem Roman "Ein anderes Leben", der gleichfalls fast
durchgängig in der dritten Person Singular erzählt ist. In den
Kinderbüchern wiederum ("Großvater und die Wölfe", 2003, und jetzt
"Großvater und die Schmuggler") gibt es die Figur des "Großvaters", die
sich ebenso aus dem Autor-Ich speist. Und während der junge Enquist mit dem
"Untersucher" protestantisch streng umging und das "Er" der späteren Bücher
Gegenstand eingehender Bewusstseinsforschung war, so ist es, als könne der
alte Enquist in seinen Kinderbüchern dieser Beziehung zwischen Erzähler und
Autor-Ich endlich humoristisch die Zügel schießen lassen.
Die zweiflerische Selbstironie, die sonst gut gebändigt zwischen den Zeilen
steckte, darf sich in den "Großvater"-Büchern bis ins Komische auswachsen.
Ein Großvater, der bei Tisch Pupsgeschichten erzählt und zur Strafe auf dem
Klo eingesperrt wird, von wo aus er für die Enkel Pipi-Kacka-Witze durchs
Schlüsselloch flüstert, ist eine demonstrativ unzuverlässige Gestalt. Ein
Großvater, der mit seinen kleinen Enkeln eine gefährliche Bergtour macht,
von der sie alle um ein Haar nicht zurückgekehrt wären, ist geradezu
gemeingefährlich leichtsinnig. Hier tritt es uns offen entgegen, das
unzuverlässige Ich, das hinter dem Autor steht. Und es wird erstmals so
offensiv ausgestellt, der Zwang zum Selbstzweifel damit solcherart
übertrieben, dass es einem Befreiungsschlag gleicht.
Im neuen Buch "Großvater und die Schmuggler" kommt allerdings noch etwas
anderes hinzu. Bereits in "Großvater und die Wölfe" wurde gebetet. Im
"Schmuggler"-Buch wird nicht nur gebetet, sondern auch sehr eindrucksvoll
vom Tod erzählt. Zudem blickt der "Großvater" wiederholt auf seine religiös
geprägte Kindheit im nordschwedischen Hjoggböle zurück, und das in schon so
romantisierenden Tönen, dass man aufhorchen muss. Waren es doch gerade die
schwierigen Seiten dieser Kindheit, die in früheren Büchern so hartnäckig
literarisch umkreist werden. Wird nicht in "Ein anderes Leben" sogar der
frühere Alkoholismus des Autors implizit auf dessen Kindheit zurückgeführt?
Oder war diese Lesart eine Überinterpretation?
## Versöhnungskurs mit der Vergangenheit
Überraschend scheint er jedenfalls schon, dieser Versöhnungskurs mit der
Vergangenheit, und auch dieses Ausstellen des "Großvaters" als eines
leichtsinnigen und außerdem zunehmend gebrechlich werdenden alten Mannes.
Ehrlich gesagt, wird, wenn es beim Großvater "ums Früher" geht, sogar auch
der Autor ein klein wenig geschwätzig. Das macht im Grunde nichts, wenn's
nach wie vor glänzend erzählt wird (auch kleinere Schwedismen in der
deutschen Übersetzung ändern daran nichts), und doch ist das
"Schmuggler"-Buch, gerade weil es mit Enquists angestammten Themen so
entspannt unkritisch umgeht, ganz deutlich ein Alterswerk. Bei einem, der
literarisch den skrupulösen "Untersucher" vorzuschicken pflegte, kann diese
geänderte Erzählhaltung nichts anderes bedeuten.
Dabei ist es ansonsten beileibe nicht so, als habe P. O. Enquist sich aufs
Altenteil zurückgezogen. Nach wie vor nimmt er aktiv am öffentlichen Leben
teil, ohne sich auf der Rolle des Großdichters auszuruhen. Immer wieder
schreibt er, wie er es vor einem halben Jahrhundert als Student schon tat,
auch ganz normale Buchbesprechungen für die Tagespresse. Und im vergangenen
Jahr trat Enquist gar, begleitet von seinem Mittelschnauzer Pelle, als
Komoderator der Hundesendung "Hunden och livet" ("Der Hund und das Leben")
im schwedischen Fernsehen an.
Einen solchen Auftritt könnte man sich bei deutschsprachigen
Autorenkollegen von vergleichbarem Rang - Grass? Walser? Handke? -
definitiv nicht vorstellen. Aber auch die Tendenz zur kompromisslos
betriebenen literarischen Selbstanalyse ist bei anderen Großschriftstellern
ja nicht so ausgeprägt. Allein diese Fähigkeit, gepaart mit einem immer
wachen Blick auf die Welt, ist etwas Besonderes. Sie erweitert die
Möglichkeiten der Literatur als Kunst der Weltbeschreibung beträchtlich.
## "Die Ausgelieferten". Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass.
Hanser, München 2011, 473 Seiten, 24,90 Euro "Großvater und die
Schmuggler". Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Hanser, München 2011,
160 Seiten, 12,90 Euro
24 Aug 2011
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Kinderbuch
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