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# taz.de -- "Ein anderes Leben" von Per Olov Enquist: Schnitte ins Fleisch
> Sehr schonungsloser Lebensroman: der große schwedische Erzähler Per Olov
> Enquist und seine Autobiografie "Ein anderes Leben".
Das grüne Haus liegt am Rande des Dorfes. Das Dorf heißt Hjoggböle und
liegt etwa 1.000 Kilometer nördlich von Stockholm. Bis in die
Fünfzigerjahre hinein durfte eine Fußballmannschaft aus dieser Gegend nicht
in die erste Schwedische Liga aufsteigen; der Weg war zu weit. In Hjoggböle
ist Per Olov Enquist geboren und aufgewachsen. Wer daran gezweifelt hat,
dass er zu den ganz großen Erzählern der Gegenwart gehört, dürfte nach der
Lektüre seiner Autobiografie eines Besseren belehrt sein. Manchmal
erschrickt man darüber, mit welcher Unerschrockenheit hier ein Mensch in
die Schwärze der eigenen Existenz blickt. "Ein anderes Leben" hat einen
Refrain; einen Satz, der in regelmäßigen Abständen ein Kapitel beschließt:
"Warum es so gut anfing und dann so schlimm endete." Die ersten 130 Seiten,
die vom Aufwachsen des jungen Per Olov unter der Obhut der streng
religiösen Mutter erzählen, sind ohne Einschränkung eine literarische
Meisterleistung.
Per Olov ist der zweite Per Olov; der erste, sein Bruder, ist eine
Totgeburt; den Vater lernt Enquist nicht kennen; er stirbt ein halbes Jahr
nach seiner Geburt und bleibt als Wohltäter-Figur im Hintergrund präsent.
Enquists Sprache ist lakonisch, nüchtern, beinahe feindselig gegenüber sich
selbst. Die Familiengeschichte setzt er in Bruchstücken zusammen; stets auf
der Suche nach Spuren, die sich in dem manifestieren könnten, was man
Identität nennt: die Urgroßmutter, die nach dem Verlust von sechs ihrer
Kinder versucht, das übrig gebliebene siebte auch noch zu töten, und
fortan, für verrückt erklärt, mit einem Nagel Symbole in die Wand ritzt.
Der Großvater, der sich mit einem lebenden Kreuzfuchs im Gepäck auf die
Reise nach Stockholm macht, um dort bei einer Zuchtschau den ersten Preis
zu gewinnen. Und die Mutter, immer wieder. Nichts an diesen Schilderungen
ist idyllisierend und nichts anklagend -"die europäische Geschichte ist,
was sie ist", heißt es an einer Stelle. Per Olovs Geschichte ist auch, was
sie ist.
Eine große Frage schwebt über den Beschreibungen des eigenen Werdeganges:
Kann der, der man ist, zu dem werden, der man sein will? Ist man dessen
überhaupt würdig, vor Gott, der Mutter, dem toten Bruder, dem toten Vater?
Enquist, ein Hüne von einem Kerl, entpuppt sich als begabter Hochspringer.
Als er an die Universität von Uppsala kommt, wird Lars Gustafsson sein
Zimmergenosse; dem bereits jetzt geschliffenen Intellektuellen gegenüber
kommt Enquist sich vor wie "ein netter Sportidiot aus der Wildnis". Das
Gefühl der Unwürdigkeit überlagert auch die Tätigkeit des Schriftstellers
Enquist. Und doch, es geht und es geht voran. Literarisches Schaffen und
politisches Engagement gehen miteinander einher (auch hier wieder die
Zweifel, wohin er gehört: Sozialdemokratie? Sozialismus? Er, als Spross des
kulturkonservativen Erweckertums), und nun zeigt sich eine weitere
erstaunliche Begebenheit in der Biografie Enquists: dass er immer wieder
zufällig gerade dort ist, wo sich Weltgeschichte ereignet. Im Berlin des
Jahres 1968, als Berichterstatter bei den Olympischen Spielen 1972, im Prag
des Umbruchjahres 1989. Zu modellhaft fassbarem Erkenntnisreichtum trägt
das aber kaum bei. Das Zentrum, so schreibt Enquist, sei ein überschätzter
Ort.
Und doch wird die Kategorie des Politischen zu einem wichtigen Faktor. Mag
sein, dass "Ein anderes Leben" manch detaillierte Information zu den
Grabenkämpfen der schwedischen Parteienlandschaft der Sechziger- und
Siebzigerjahre enthält, die man nicht unbedingt gebraucht hätte, noch dazu
die eine oder andere naive Phrase, geschuldet dem gesellschaftlichen
Zeitkolorit - dahinter jedoch erscheint immer wieder der Mensch Enquist im
Gespräch mit sich und der Welt, der von sich selbst nur in der dritten
Person spricht und zusehends ins Rutschen gerät, ins Sinken, wie es im Buch
heißt. Vergleicht man die Perspektive, mit der Enquist auf das Ich blickt,
mit der seines sozialdemokratischen deutschen Pendants Grass (in "Ein
anderes Leben" nur nebensätzlich erwähnt), ist festzustellen: Hier wird
nicht vorsichtig gehäutet, sondern brutal ins eigene Fleisch geschnitten.
Der dritte Teil des Buches ist ein Martyrium. Dass etwas nicht in Ordnung
ist, merkt Enquist schon früh. 1972, 37 Jahre alt und auf dem Höhepunkt
seiner Karriere, wie er glaubt, notiert er in sein Tagebuch: "Die
Berufskrankheiten der Schriftsteller. Die Trägheit, die Paranoia und der
Alkohol." 17 Jahre später ist Enquist endgültig ein Wrack, unfähig zu
schreiben, dem Alkohol gänzlich verfallen. Aus der demütigenden Behandlung
in diversen Entzugskliniken flieht er immer wieder; im Delirium rettet er
sich gedanklich in das grüne Haus seiner Kindheit; so schließt sich ein
Kreis - bis es eines Tages in der verschneiten Ödnis von Island zu einem
Erweckungserlebnis kommt. Kurz darauf begibt Per Olov Enquist sich noch
einmal freiwillig in Behandlung und beginnt dort mit der Arbeit an "Kapitän
Nemos Bibliothek", seinem wohl brillantesten und bedrückendsten Roman - mit
Ausnahme von "Ein anderes Leben", einem Buch, das keine Gattungsbezeichnung
trägt und das doch ein grandioser schwarzer Lebensroman ist, an dessen
vorläufigem Ende eine Rettung steht.
Per Olov Enquist: "Ein anderes Leben". Aus dem Schwedischen von Wolfgang
Butt. Hanser Verlag, München 2009, 544 Seiten, 24,90 Euro
16 Apr 2009
## AUTOREN
Christoph Schröder
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